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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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haben schien, wo die neue Kolonie liegen sollte. Bahram hatte hierzu schon viele seltsame Vorschläge gehört, aber keiner hatte ihn so verblüfft wie der, den Mr. Lindsay nun unterbreitete.
    »Ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen«, tönte er, »dass es zahlreiche herrenlose Gebiete gibt, die sich hervorragend für unsere Zwecke eignen würden, aber keiner kommt meiner Ansicht nach jenem Archipel gleich, den die britische Regierung erst kürzlich in Besitz genommen hat: die Bonin-Inseln, die sich zwischen Japan und Formosa erstrecken.«
    Bahram hatte noch nie von den Bonin-Inseln gehört und wunderte sich, dass sie von den Briten eingenommen worden waren. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie in irgendeiner Weise sinnvoll zu nutzen gewesen wären, und war froh, als Mr. Slade einen Gegenvorschlag machte: »Es ließe sich doch bestimmt noch etwas Besseres finden, näher bei China – Formosa zum Beispiel?«
    Die anderen dachten über Mr. Slades Worte nach, doch wie sich herausstellte, hatte er die Frage nur um des rhetorischen Effekts willen gestellt. »Mitnichten, Sir!«, rief er mit Donnerstimme und gab der Debatte damit eine neue Wendung. »Nach zweihundertjähriger Handelstätigkeit können wir unsere Faktoreien nicht einfach aufgeben und uns aus Kanton zurückziehen. Hier in Kanton müssen wir uns behaupten, müssen wir den Chinesen zeigen, dass ihre aufgeblasene Macht in sich zusammensinken wird, sollten sie versuchen, den Außenhandel zu beschneiden. Ist es nicht an der Zeit, die Frage aufzuwerfen, welche Folgen die Ignoranz und Halsstarrigkeit der chinesischen Herrscher für ihr Reich haben könnten? Ignoranz in Bezug auf alles, was nicht China ist, stures Festhalten an obsoleten politischen Dogmen? Die Antwort liegt auf der Hand: Wir müssen hierbleiben, und sei es nur, um die Chinesen vor sich selbst zu schützen. Für mich besteht kein Zweifel daran, dass die britische Regierung in Bälde genötigt sein wird, hier einzugreifen, wie sie es auch andernorts getan hat, allein schon, um innere Unruhen im Keim zu ersticken.«
    Ein Beifallssturm brach los, und alles gratulierte Mr. Slade dazu, dass er wieder einmal eine diffizile Angelegenheit in befriedigender Weise auf den Punkt gebracht hatte.
    Ende Februar wurden die Tage wärmer, und in der ersten Märzwoche herrschte bereits eine drückende Hitze. Auf dem Maidan bot neuerdings ein Straßenhändler eiskalte Säfte und gefrorenes Zuckerwerk aus einem mit Heu und Stoffstreifen umwickelten irdenen Gefäß an.
    Gegen Sonnenuntergang trat Nil oft auf den Platz hinaus, um einen kalten Sirup zu genießen. Eines Tages stieß er dort mit Compton zusammen, der noch kurzsichtiger als sonst und so in Eile war, dass er es versäumt hatte, seine vom Schwitzen beschlagene Brille zu putzen. »Ah, Nil! Dím aa?«
    »Hou leng. Und wohin sind Sie so fiti-fiti unterwegs, Compton?«
    »Jackass Point. Will Sampan mieten.«
    »Einen Sampan? Wozu das?«
    »Sie nicht wissen? Yum-chae morgen kommt Guangzhou.«
    »Wer?«
    »Hochkommissar Lin. Alle Guangzhou-Leute mieten Boote zu sehen. Sie wollen auch kommen maah? Können kommen mit uns. Morgen in Jackass Point, erster Teil von Drachenstunde.«
    »Um sieben?«
    »Ja, Sie kommen. Dak-mh-dak-aa?«
    »Ich weiß nicht. Vielleicht muss ich arbeiten.«
    Compton lachte. »Oh, keine Sorge-wo. Niemand morgen arbeitet, auch kein Taipan.«
    Zu Nils nicht geringer Überraschung erwies sich Comptons Prognose als zutreffend. Vico verkündete, dass sich das gesamte Personal für den Vormittag freinehmen könne; der Seth werde heute nicht in seinem daftar frühstücken, er sei eingeladen, sich den Einzug des Kommissars von der Veranda des Konsulats aus anzusehen.
    Am nächsten Tag herrschte in der Stadt schon in aller Frühe gespannte Erwartung. Von fern hörte man Getrommel und Feuerwerk, und beim Frühstück des Personals berichtete Mesto, die Märkte seien wie ausgestorben und in der Thirteen Hong Street sei kein einziger Laden geöffnet. Alle, auch die Straßenhändler und Herumtreiber, waren davongeeilt, um einen Blick auf den Yum-chae zu erhaschen.
    Als Nil auf den Maidan hinaustrat, standen die Zuschauer auf den Veranden des britischen und des niederländischen Hongs bereits dicht an dicht. Auch in Jackass Point drängte sich die Menge, und Nil brauchte eine gute halbe Stunde, bis er Compton entdeckte, der eine ganze Kinderschar am Wasser entlang zu einem wartenden Sampan trieb.
    Drei der Jungen seien seine Söhne, sagte er, die anderen

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