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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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chinesischen Gelehrten. »Ich würde ihn furchtbar gern kennenlernen«, sagte er.
    Für jene, die den Einzug des neuen Kommissars von der Veranda des Konsulats aus verfolgten, kam der aufregendste Moment der Zeremonie, kurz bevor er ihren Blicken entschwand. Am Tor der Zitadelle blieb er stehen, um mit Kantoner Beamten zu sprechen. Einige dieser rangniedrigeren Mandarine hoben wie zur Antwort auf eine Frage die Hände und zeigten in Richtung der Ausländerenklave, der Kommissar drehte sich um – und Bahram und seinen Nachbarn kam es vor, als sähe er sie direkt an.
    Dass der Kommissar ihren Blick erwidert hatte, beunruhigte viele Komiteemitglieder. Niemand widersprach, als Dent sagte: »Machen wir uns nichts vor, meine Herren: Der Mann kommt nicht in friedlicher Absicht.«
    Später ging Bahram mit einigen anderen zu einem Gabelfrühstück in den Klub. Da es ein schöner, warmer Tag war, wurde das Essen auf der schattigen Veranda serviert. Das Ale floss reichlich, und die Speisen waren vorzüglich, aber am Tisch kam keine rechte Stimmung auf. Schnell nahm die Zusammenkunft den Charakter eines Kriegsrats an. Man kam überein, sich nun regelmäßig zu treffen, um alles zu bündeln, was an Informationen zu erlangen war. Mr. Wetmore als neuem Präsidenten übertrug man die Aufgabe, ein Botensystem zu etablieren, sodass die Mitglieder des Komitees zu jeder Tages- und Nachtzeit in die Kammer gerufen werden konnten. Im Krisenfall sollte die Glocke in der Kapelle der britischen Faktorei als Alarmglocke dienen.
    Nach diesen so ahnungsvollen Beratungen war es fast eine Enttäuschung, als zunächst weder die Glocke geläutet noch Boten ausgesandt werden mussten. Die ersten Informationsfetzen gaben keinen Anlass zur Besorgnis: Der Kommissar, so hörte man, halte lediglich Sitzungen ab und bestelle sein Haus. Das einzig Beunruhigende berichtete Mr. Fearon: Lin Zexu ziehe es vor, nicht in dem Teil der Stadt zu residieren, in dem Soldaten und hohe Beamte untergebracht waren, sondern habe sich in einer von Kantons ehrwürdigsten Bildungsstätten eingerichtet, der Yueh-Lin-Akademie.
    Niemand im Komitee hatte je von dieser Institution gehört, und selbst Mr. Fearon hatte keine Ahnung, wo sie lag. Die Geografie der ummauerten Stadt war eine Art Mysterium für die Fanquis, denn Stadtpläne von Kanton waren schwer erhältlich. Einige wenige gab es jedoch, und der detaillierteste befand sich in einem verschlossenen Schrank im Büro des Präsidenten der Handelskammer. Er basierte auf einer zweihundert Jahre alten niederländischen Vorlage und wurde ergänzt und mit Anmerkungen versehen, wann immer neue Informationen hinzukamen. Auf Mr. Wetmores Einladung begaben sich nun alle nach oben, um ihn sich anzusehen.
    Als er ausgerollt war, zeigte sich, dass Kanton die Form einer Glocke oder einer Kuppel hatte. Die Spitze mit dem Sea-Calming Tower lag auf einem Hügel im Norden, die Basis folgte in mehr oder weniger gerader Linie dem Fluss. Die Stadtmauern wurden von sechzehn Toren unterbrochen, die unterschiedlich breiten Straßen waren rasterförmig angeordnet.
    Zwischen der Ausländerenklave und dem Behördenviertel lagen nicht nur die Stadtmauern, sondern auch meilenweit dicht gedrängte Behausungen. Fanqui-Town war nichts weiter als ein winziges Anhängsel an der Südwestecke der Zitadelle. Der Bezirk, in dem die Mandarine und Mandschu-Bannerträger wohnten, lag weit weg im nördlichen Quadranten der ummauerten Stadt. Die Fanquis hatten die große Entfernung zu den Beamten Kantons stets als einen Glücksfall empfunden, deshalb war es für sie nicht ohne Bedeutung, wo der Hochkommissar residierte. Auf dem Plan sahen sie nun, dass die Akademie ungemütlich nahe bei den ausländischen Faktoreien lag.
    »Klarer Fall«, sagte Dent. »Er hat sein Flaggschiff dicht vor unseren Bug gesteuert. Er macht sich bereit, eine Breitseite abzufeuern.«
    Da warf sich Mr. Slade in die Brust und feuerte eine Salve seiner Eloquenz ab. »Nun, Sir«, sprach der Donnerer, »dann ist jetzt auch unser eigener Kurs klar. Die Ausländergemeinde muss sich absolut ruhig und passiv verhalten. Sollen doch die chinesischen Behörden zur Tat schreiten, sollen doch sie den ersten Schritt tun – eine Strategie, die sie ja immer ihren Gegnern aufzuzwingen trachten, weil sie wissen, welch beträchtlichen Vorteil sie selbst daraus ziehen – aber diesmal machen wir ihnen einen Strich durch die Rechnung.« Slade legte eine Kunstpause ein und schloss dann: »Wir müssen im

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