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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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seien Freunde von ihnen. Man hatte den Kindern offensichtlich eingeschärft, sich Nil gegenüber keine Frechheiten herauszunehmen, denn von keinem war ein leises »Achha« oder »Mo-ro-chaa« oder »Haak-gwai« zu hören. Sie schlugen scheu die Augen nieder, als sie ihre chin-chins sagten, und riskierten kaum einen Blick auf Nils Turban und seinen angarkha. Als sich der Sampan in Bewegung setzte, wiesen sie sogar Kinder in anderen Booten zurecht, wenn sie Nil anstarrten oder respektlose Bemerkungen machten.
    »… jouh me aa … ?«
    »… mh gwaan neih sih!«
    Der Fluss war mit Booten verstopft, die sich Dollbord an Dollbord zentimeterweise fortbewegten.
    Nil staunte über die Menschenmassen. »Das ist ja wie an einem Festtag!«, sagte er. »Ist das immer so, wenn ein hoher Beamter in die Stadt kommt?«
    Compton lachte. »Nein! Sonst ist nicht so – Leute verstecken sich. Aber Lin Zexu anders, nicht wie andere … «
    Der Ankunft Kommissar Lins, so erklärte Compton, sei ein steter Strom von Berichten über seine Reise in den Süden vorausgegangen, und man habe diese Berichte in der Provinz mit steigender Spannung verfolgt. Nach dem, was man so hörte, fragten sich die Menschen, ob der Yum-chae nicht der letzte eines Schlags von Männern sei, von denen man geglaubt hatte, sie seien längst ausgestorben: ein unbestechlicher Staatsdiener, zugleich Gelehrter und Intellektueller, ein Beamter, wie er in Legenden und Parabeln verewigt war.
    Während andere Mandarine mit riesigem Gefolge auf Staatskosten reisten, hatte der Yum-chae nur wenige Begleiter – ein halbes Dutzend Bewaffnete, einen Koch und einige Diener – , die er aus eigener Tasche bezahlte. Bedienstete anderer Beamter pressten denen, die ihren Herrn sprechen wollten, ungeniert Geld ab, Kommissar Lins Leute dagegen wussten, dass ihnen Verhaftung drohte, wenn sie der Annahme von Bestechungsgeldern überführt wurden. Gasthöfe und Raststätten wurden angewiesen, dem Kommissar normales Essen vorzusetzen; Luxusspeisen wie Vogelnester und Haifischflossen kamen bei ihm nicht auf den Tisch. Unterwegs hatte er, statt sich mit anderen hohen Beamten zusammenzutun, Gelehrte und andere kenntnisreiche Männer aufgesucht und sie um Rat gebeten, wie mit der Situation in den südlichen Provinzen zu verfahren sei.
    »Mein Lehrer auch da, Yum-chae zu sehen«, sagte Compton stolz.
    »Und wer ist Ihr Lehrer?«
    »Sein Name Chang Nan-shan, aber ich nenne ›Chang Lou-si‹, weil er ist mein Lehrer. Chang Lou-si alles weiß von Guangdong. Schreibt viele Bücher. Er wird Berater für Yum-chae.«
    »Reist er zusammen mit dem Kommissar?«
    »Hai-l é ! Vielleicht Sie sehen ihn – im Boot.«
    Die Menge war unruhig geworden; sie spürte, dass das Boot des Yum-chae näher kam. Bald schob sich eine große Staatsbarke langsam ins Blickfeld. Purpurrote Stoffbahnen leuchteten am Rumpf, und in der Sonne blitzten Goldsprengsel. Die Besatzung trug weiße, rot abgesetzte Uniformen und spitze Rattanhüte.
    Die Barke war schon fast längsseits, als Nil Kommissar Lin erblickte, der unter einem riesigen Schirm im Bug des Bootes saß. Hinter ihm standen einige Mandarine zweier verschiedener Ränge, flankiert von Soldaten mit Helmbüschen aus Rosshaar.
    Im Vergleich zu ihnen schien der Yum-chae sehr klein, und sein Gewand wirkte trist gegen die flatternden Tücher und Wimpel ringsum.
    Das Boot glitt schnell dahin, Dutzende von Rudern tauchten rhythmisch ins Wasser, doch Nil konnte das Gesicht des Kommissars deutlich sehen. Er hatte sich eine finster blickende Persönlichkeit von steifer Würde vorgestellt, aber der Yum-chae hatte nichts Strenges oder Starres an sich. Lebhaft und neugierig sah er sich um. Er hatte ein volles Gesicht mit einer hohen, glatten Stirn, einen schwarzen Schnurrbart und einen strähnigen Kinnbart, und seine Augen zeigten einen Ausdruck wacher Klugheit.
    Compton zupfte Nil am Ellenbogen. »Ah Nil! Da, Sie sehen! Da ist Chang Lou-si.«
    Er zeigte auf einen gebeugten älteren Mann mit einem dünnen weißen Bart, der im Heck stand und blinzelnd die Menge beobachtete. Als der Mann Compton in dem Gewühl entdeckte, verneigten sich die beiden voreinander.
    »Sie kennen ihn gut?«, fragte Nil.
    »Ja. Oft er kommt in meinen Laden, spricht mit mir. Interessiert sehr für englische Bücher und alles, was steht im Canton Register . Ho-yih einmal Sie können kennenlernen.«
    Nil sah wieder zu der Barke hinüber. Die gebeugte Gestalt im Heck erschien ihm wie der Inbegriff des

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