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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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klang fest und klar: »Es war nicht das erste Mal, dass ich Menschen in die Augen schauen musste, die in Todesangst schwebten. Aber ich kann Ihnen gar nicht sagen, meine Herren, wie sehr es mich geschmerzt hat, diesen Blick nun in den Augen unserer alten Freunde zu sehen, Freunde, an deren Tisch wir gespeist, Freunde, die uns reich gemacht haben und denen wir die Annehmlichkeiten verdanken, die wir genießen.«
    Seine Worte wirkten noch nach, als die Tür aufging und Mr. Dent eintrat.
    »Verzeihung, meine Herren – bitte entschuldigen Sie die Verspätung.«
    »Sie kommen gerade recht, Mr. Dent«, sagte Mr. Wetmore. »Das Dokument, das ich gleich vorlesen werde, wird Sie mit Sicherheit interessieren.« Er nahm ein Blatt Papier und blickte in die Runde. »Dies ist das Edikt, das der kaiserliche Kommissar der Cohong-Gilde hat zukommen lassen, jenes Dokument, das sie so in Angst und Schrecken versetzt hat. Ich denke, es steht uns an, unser Ohr den Worten des Kommissars selbst zu leihen.«
    Wieder blickte Mr. Wetmore in die Runde. »Sie erlauben, meine Herren?«
    »Bitte sehr.«
    »Hören wir also, was er zu sagen hat.«
    »›Während das Opium das ganze Reich überzieht und seinem verderblichen Einfluss aussetzt, gewähren die Hong-Kaufleute den ausländischen Händlern weiterhin wahllos Bürgschaften und erklären, deren Schiffe führten kein Opium ein. Träumen sie denn oder schnarchen sie in ihren Träumen? Was ist das anderes als ›das Ohr verschließen, während die bimmelnde Glocke gestohlen wird‹? Früher waren die Cohong-Kaufleute Männer mit Besitz und Familie, die niemals so tief gesunken wären, jetzt aber haftet allen gleichermaßen dieser Gestank an. Wahrhaft brennende Scham für Sie, die derzeitigen Mitglieder der Cohong, erfüllt mich: Keinen anderen Gedanken scheinen Sie zu kennen als den, reich zu werden.
    Die völlige Ausrottung des Opiumhandels ist nun mein oberstes Ziel, und ich habe den Fremden den Befehl erteilt, alles in ihren Schiffen lagernde Opium der Regierung auszuliefern. Des Weiteren habe ich sie ersucht, eine sowohl in chinesischer als auch in ihren Sprachen abgefasste Verpflichtungserklärung zu unterzeichnen, des Inhalts, dass sie sich inskünftig nie wieder erdreisten werden, Opium nach China zu bringen; sollte dies dennoch geschehen, wird ihr Eigentum von der Regierung beschlagnahmt werden. Diese Befehle werden hiermit Ihnen, den Cohong-Kaufleuten übermittelt, auf dass Sie sie an die ausländischen Faktoreien weiterleiten und dort klar und deutlich zur Kenntnis bringen. Es ist zwingend erforderlich, dass die Dringlichkeit der Befehle unmissverständlich herausgestellt wird. Es ist zwingend erforderlich, dass Sie, die Cohong-Kaufleute, in dem Bewusstsein, ein erhabenes Ziel anzustreben, diese Befehle energisch und mit vereinten Kräften den ausländischen Kaufleuten vermitteln. Eine Frist von drei Tagen ist gesetzt, innerhalb deren Sie die geforderte Verpflichtungserklärung sowie die Ware von ihnen zu erlangen haben. Sollte es sich erweisen, dass die Angelegenheit von Ihnen nicht umgehend bereinigt werden kann, wird daraus gefolgert, dass Sie mit den ausländischen Verbrechern gemeinsame Sache machen, und ich, der Hochkommissar, werde unverzüglich das kaiserliche Todesurteil erwirken und einen oder zwei von Ihnen zur Hinrichtung bestimmen. Machen Sie nicht geltend, Sie seien nicht rechtzeitig in Kenntnis gesetzt worden.‹«
    Ungläubiges Gemurmel lief um den Tisch. Bahram glaubte sich verhört zu haben und fragte: »Sagten Sie ›Hinrichtung‹, Mr. Wetmore?«
    »Allerdings, Mr. Moddie.«
    »Heißt das«, fragte Mr. Lindsay, »der Kommissar könnte zwei Hong-Kaufleute an den Galgen bringen, wenn wir nicht unsere Ware ausliefern und diese Verpflichtungserklärung abgeben?«
    »Nein, Sir«, antwortete Mr. Wetmore, »es heißt, sie werden enthauptet werden, nicht gehenkt. Und unsere Freunde Howqua und Mowqua sind überzeugt, dass sie als Erste sterben werden.«
    Die Versammelten schnappten hörbar nach Luft. Dann sagte Mr. Burnham: »Kein Zweifel: Dieser Kommissar Lin ist ein Ungeheuer. Nur ein Verrückter oder ein Ungeheuer kann das menschliche Leben so gering achten, dass er erwägt, zwei Männer wegen eines solchen Verbrechens hinzurichten.«
    »Ach ja, Mr. Burnham?«, ließ sich Mr. King vom anderen Tischende her vernehmen. »Sie scheinen ja äußerst besorgt um das menschliche Leben, was gewiss sehr löblich ist. Aber darf ich fragen, weshalb Ihre Sorge nicht auch das Leben

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