Der rauchblaue Fluss (German Edition)
gut wie gar nicht zu bekommen waren. In dieser Situation machte ihn ein befreundeter Parse mit Zadig Karabedian bekannt.
Da er sich brennend für europäische Politik interessierte, hatte Zadig vorausgesehen, wie Napoleons letzter Feldzug enden würde, und sogar einen Weg gefunden, davon zu profitieren. Er stand ebenfalls im Begriff, nach England zu reisen, und da er schon vermutet hatte, dass Schiffspassagen nach Westen in diesen Monaten sehr begehrt sein würden, hatte er auch die zweite Koje in seiner Kabine gebucht, in der Erwartung, sie an einen Reisegefährten weitergeben zu können, der nicht nur sympathisch, sondern auch bereit sein würde, einen ansehnlichen Aufpreis zu zahlen. Nach einigem zähen, doch freundschaftlichen Feilschen kamen er und Bahram zu einer für beide Seiten annehmbaren Lösung, und sie gingen am 7. Dezember 1815 in Macao an Bord eines Schiffs der Ostindien-Kompanie, der Cuffnells.
Zadig war ein hochgewachsener Mann mit einem langen, dünnen Hals und hellrosa Wangen, die wie Frostbeulen wirkten. Einmal auf See, verbrachten Bahram und Zadig ihre Tage fast ausschließlich gemeinsam: Ihre Kabine lag tief im Bauch des Schiffs, und um dem Gestank aus den Bilgen zu entgehen, hielten sich, die beiden Kaufleute so viel wie möglich an Deck auf, wo sie sich, an die Reling gelehnt, unterhielten und sich den Wind um die Nase wehen ließen. Sie waren beide Mitte dreißig, und sie stellten verblüfft fest, dass sie mehr gemeinsam hatten, als man von zwei Männern erwarten konnte, die durch Kontinente voneinander getrennt aufgewachsen waren. Wie Bahram verdankte auch Zadig seinen Aufstieg einer vorteilhaften Eheschließung: Er war dazu bestimmt worden, die verwitwete Tochter einer wohlhabenden Familie zu heiraten, die mit seiner eigenen verwandt war. Auch er wusste, wie es war, von seinen Schwiegerleuten als armer Verwandter angesehen zu werden.
Eines Tages, als sie sich über die Reling beugten, um die schäumende Bugwelle der Cuffnells zu betrachten, sagte Zadig: »Wenn Sie fern der Heimat sind, in China – wie halten Sie es dann mit … mit Ihren körperlichen Bedürfnissen?«
Bahram war es immer peinlich, über solche Dinge zu sprechen, und er begann zu stottern: »Kya … was meinen Sie denn?«
»Das ist nichts, wofür man sich schämen müsste, wissen Sie«, sagte Zadig. »Nicht nur der Samen hat seine Bedürfnisse, sondern auch die Seele – und ein Mann, der sich zu Hause einsam fühlt, hat der nicht das Recht, sich anderswo nach Gesellschaft umzusehen?«
»Würden Sie das wirklich ein Recht nennen?«, fragte Bahram.
»Recht oder nicht, ich scheue mich nicht, Ihnen zu sagen, dass ich – wie viele andere, die ständig reisen müssen – eine zweite Familie habe, in Colombo. Meine ›Frau‹ dort ist ceylonesische Staatsbürgerin, und obwohl die Familie, die ich mit ihr habe, vor dem Gesetz nicht meine ist, ist sie mir genauso lieb und teuer wie die, die meinen Namen trägt.«
Bahram warf ihm einen raschen Blick zu und senkte dann die Lider. »Das ist bitter, nicht wahr?«
Sein Tonfall ließ Zadig aufhorchen. »Sie haben also auch jemanden?«
Bahram nickte mit gesenktem Kopf.
»Ist sie Chinesin?«
»Ja.«
»Ein sogenanntes ›Sing-song-girlie‹ – eine Professionelle?«
»Nein!«, erwiderte Bahram empört. »Nein. Als ich sie kennenlernte, war sie Wäscherin, eine Witwe. Sie lebte mit ihrer Mutter und ihrer Tochter auf einem Boot. Ihren Lebensunterhalt verdienten sie mit Wäschewaschen für die Bewohner der Ausländerenklave … «
Bahram hatte noch nie mit jemandem darüber gesprochen; es endlich einmal tun zu können war eine solche Erleichterung, dass er gar nicht wieder aufhören konnte.
Sie heiße Chi-mei, fuhr er fort, und er, Bahram, sei neu in Kanton gewesen, als er sie kennenlernte. Als jüngstes Mitglied der Parsi-Gemeinde habe man ihn oft gebeten, Botengänge für die großen Seths zu übernehmen, und manchmal hätten sie ihn sogar ans Wasser geschickt, um ihre Wäsche zu holen. Dabei sei er Chi-mei zum ersten Mal begegnet; sie habe auf dem flachen Heck ihres Bootes Kleider geschrubbt. Sie hatte sich ein Kopftuch umgebunden, doch ein paar Haarsträhnchen schauten darunter hervor und ringelten sich auf ihrer Stirn. Ihr Gesicht war keck und lebhaft, mit blitzenden schwarzen Augen und Wangen, die wie polierte Äpfel glänzten. Ihre Blicke trafen sich kurz, doch wandte sie rasch das Gesicht ab. Später jedoch, als er sich auf den Rückweg machte, warf er noch einmal
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