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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Lagerhäuser und Büros in Singapur gekauft oder gemietet hatten: Es war sehr gut möglich, dass die neue Ansiedlung hinsichtlich der wirtschaftlichen Bedeutung Malakka schon bald überflügeln würde. Das rief bei Bahram gemischte Gefühle hervor: Er hatte den Verdacht, dass diese von den Briten erbaute Siedlung nicht so liberal sein würde wie das alte Malakka, wo Malaien, Chinesen, Gujaratis und Araber auf Tuchfühlung mit den Nachkommen der alten portugiesischen und holländischen Familien lebten. Singapur war so geplant, dass die »weiße Stadt« sorgsam von der übrigen Siedlung getrennt war, in der Chinesen, Malaien und Inder jeweils ihre eigenen Viertel – oder »Gettos«, wie manche sie nannten – zugewiesen bekamen.
    Was würde aus dieser seltsamen neuen Stadt werden? Auf jeden Fall würde sie ein guter Platz zum Kaufen und Verkaufen sein. Vico brachte von seinen Landausflügen die Nachricht mit, dass Basare und Märkte wie Pilze aus dem Boden schossen. Besonders interessant fand Vico eine wöchentlich abgehaltene mela unter freiem Himmel, zu der Menschen von nah und fern kamen, um Altkleider zu verkaufen und zu tauschen.
    Aus Vicos Berichten und seinen eigenen Beobachtungen des Verkehrs auf dem Fluss folgerte Bahram, dass Singapur dabei war, sich in Windeseile zu einer der wichtigsten Anlaufstellen im Indischen Ozean zu entwickeln. Daher war er nicht weiter verwundert, als er erfuhr, dass sich ein alter Freund von ihm, Zadig Karabedian, in der Stadt aufhielt – Vico war ihm zufällig in der Commercial Street begegnet.
    »Arré, Vico«, sagte Bahram. »Warum hast du Zadig Bey nicht mitgebracht?«
    »Er war irgendwohin unterwegs, Patrão. Er will kommen, sobald er kann.«
    »Was hat er in Singapur zu tun?«
    »Er ist unterwegs nach Kanton, Patrão.«
    »Ach ja?« Bahram setzte sich interessiert auf. »Hat er die Passage schon gebucht?«
    »Das weiß ich nicht, Patrão.«
    »Vico, du musst ihn unbedingt finden. Sag ihm, er muss mit uns reisen, auf der Anahita . Ein Nein akzeptiere ich nicht. Sag ihm, er muss so bald wie möglich an Bord kommen. Geh jetzt, jaldi!«
    Zadig Karabedian war einer von Bahrams wenigen engen Vertrauten. Sie hatten sich vor dreiundzwanzig Jahren in Kanton kennengelernt. Zadig war Uhrmacher von Beruf und reiste oft in verschiedene Hafenstädte am Indischen Ozean und am Südchinesischen Meer, um Uhren, Taschenuhren, Spieluhren und andere Apparate zu verkaufen, die zusammenfassend als »sing-songs« bezeichnet wurden; diese Artikel waren in Kanton sehr begehrt.
    Zadig war armenischer Herkunft, doch seine Familie war schon seit Jahrhunderten in Ägypten ansässig, wo sie in dem alten christlich-jüdischen Stadtviertel von Kairo lebte. Der Legende nach war einer von Zadigs Vorfahren als Junge an den Sultan von Ägypten verkauft worden: Nachdem er in den Rang eines Mamelucken aufgestiegen war, hatte er es einrichten können, dass einige seiner Verwandten nach Kairo übersiedeln durften, wo sie sich als Handwerker, Steuereinnehmer und Geschäftsleute etabliert hatten. Seither pflegten sie enge Geschäftsbeziehungen zu Aden, Basra, Colombo, Bombay und mehreren Hafenstädten in Fernost, darunter auch Kanton.
    Zadig war, mehr noch als andere aus seinem Clan, ein leidenschaftlicher Reisender und sprach mehrere Sprachen fließend, darunter Hindustani. Er war auch sehr begabt für etwas, was Bahram gern khabar-dari nannte – mit den neuesten Nachrichten auf dem Laufenden bleiben – , und nicht zuletzt deswegen hatten sich ihre Wege in Kanton gekreuzt.
    Man schrieb das Jahr 1815, und Ende November waren die ersten Berichte von der Niederlage der Franzosen bei Waterloo in China eingetroffen. Die Nachricht wurde von den meisten Europäern mit großer Erleichterung aufgenommen. Viele Kaufleute, die ihre Rückkehr nach Europa wegen des Krieges aufgeschoben hatten, machten sich jetzt auf die Heimreise. Das führte zu allerlei Störungen, nicht zuletzt zu einem Mangel an Wechseln. Weil die Nachfrage ständig stieg, war es besonders schwierig, Wechsel zu bekommen, die man in Indien einlösen konnte. Völlig unerwartet stand Bahram vor dem Problem, womöglich nach England reisen zu müssen, um seine Gewinne in diesem Jahr realisieren zu können.
    Das war allerdings keine große Enttäuschung für ihn: Er war noch nie in Europa gewesen, und die Aussicht auf eine Reise dorthin fand er über die Maßen aufregend. Doch als er eine Kabine buchen wollte, musste er feststellen, dass Passagen in den Westen so

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