Der rauchblaue Fluss (German Edition)
und vernachlässigte seine Pflichten gegenüber den führenden Mitgliedern der Bombay-Kolonie. Eines Tages wurde er von einem ranghohen Seth zur Rede gestellt, weil er sich nicht ordnungsgemäß um die Wäsche gekümmert hatte. Am Schluss der Gardinenpredigt gab ihm der Seth ein zerrissenes Turbantuch.
»Sehen Sie sich das an – das ist Ihre Schuld!«
Bahram war nicht in der Stimmung, mit dem Seth zu streiten: Er verließ die Faktorei und begab sich zu Chi-meis Sampan. Es war bereits dunkel, aber er fand den Weg trotzdem ohne Weiteres. Aus irgendeinem Grund war sie allein.
»Mister Barry, chin-chin. Was-Ding woll?«
»Li Shiu-ja hab mach viel bös Ding.«
»Hai-ah! Was-Ding hab mach ah?«
»Reiß Tuch.«
»Wo Tuch reiß ah? Mister Barry kann zeig?«
»Kann. Kann.«
Die einzige Lampe auf dem Sampan stand in der Kajüte, einem kleinen, niedrigen Raum, in dem sich jedoch so wenige Habseligkeiten befanden, dass er nicht beengend wirkte. Geduckt unter dem gewölbten Dach sitzend, entfaltete Bahram den Stoff und suchte nach dem Riss. Das Turbantuch war viele Meter lang, und schon bald hatten sie sich beide mit den Armen darin verheddert.
Bahram begann zu fluchen – banchod! madarchod! – , und plötzlich fasste sie seine Arme.
»Stopp, stopp, Mister Barry. Stopp.« Mit einer Falte des Tuchs wischte sie ihm etwas vom Gesicht.
»Mister Barry Problem hab? Traurig innen?«
Seine Kehle war ausgedörrt, aber er brachte mühsam hervor: »Ja. So viel traurig. Schwester hab mach sterb.«
Sie saß dicht neben ihm, die Schultern halb ihm zugewandt. Er ließ seinen Kopf in ihre Halsbeuge sinken, und zu seiner Verblüffung stieß sie ihn nicht weg, sondern strich ihm über den Rücken.
Noch nie war es ihm so tröstlich gewesen, berührt zu werden: Er dachte nicht im Entferntesten an Verlangen oder an den Liebesakt; was ihn bewegte, war vor allem Dankbarkeit.
Schon bald wurde klar, dass sie, was ihn anging, eine Entscheidung getroffen hatte. Sie flüsterte ihm ins Ohr, er könne jetzt nicht bleiben, weil ihre Mutter und ihre Tochter jeden Moment zurückkommen würden. Sie werde ihm aber schon bald eine Nachricht zukommen lassen, durch einen Boten: »Er Junge-chilo – mein Verwandt. Name Allow.«
Zwei Tage später spürte Bahram, wie jemand am Saum seines chogas zupfte. Er drehte sich um: Ein kleiner Junge stand hinter ihm. Unter seiner Nase hing wie eine Perle ein Tropfen Rotz, und er trug einen schmutzigen Kittel und eine zerrissene Hose. Er sah aus wie einer der Straßenjungen, die durch die Ausländerenklave streiften, um Münzen bettelten und sich für Besorgungen anboten.
»Name Allow?«
Der Junge nickte und setzte sich Richtung Hafen in Bewegung. Er stolperte beim Gehen ständig über die eigenen Füße, sodass es oft schien, als würde er im nächsten Moment hinfallen. Sein Gang war so charakteristisch, dass Bahram keine Mühe hatte, ihn im Dunkeln nicht aus den Augen zu verlieren. Sie kamen an einen Sampan, auf dem keine Lichter brannten. Allow bedeutete Bahram, an Bord zu gehen, und er kletterte über das Vordeck. Chi-mei wartete in der verdunkelten Kajüte. Sie bedeutete ihm, still zu sein, und sie saßen schweigend nebeneinander, während Allow die Leinen losmachte und den Sampan flussaufwärts ruderte, auf den White Swan Lake zu. Dann erst rollte sie eine Matte aus.
»Komm, Mister Barry.«
Er war noch nie mit einer anderen als seiner eigenen Frau zusammen gewesen: So selbstsicher und kampflustig er in geschäftlichen Angelegenheiten war, so schüchtern und zurückhaltend war er in allen intimen oder persönlichen Dingen. Das Entkleiden war bisher stets in feierlicher Stille vonstatten gegangen, Chi-mei hingegen kicherte ständig, während sie ihm half, seinen Turban abzunehmen, den choga abzulegen und seine Hose aufzubinden. Als sie seine Gürtelschnur lösen wollte, flüsterte er: »Das Stück Schnur heilig. Nix kann abnehm.«
Sie lachte glucksend. »Hab Schnur um Bauch wie fromm Mann?«
»Hab. Hab.«
»Weiß-Hut-Teufel hab viel groß Kleid.«
»Weiß-Hut-Teufel auch ander Ding hab viel groß.«
Der enge Raum, die harten Kanten der Balken, das Schaukeln des Sampans und der Geruch nach Dörrfisch, der aus der Bilge aufstieg, weckten ein fast schwindelerregendes Verlangen in ihm. Mit Shirinbai war die Liebe eine klinisch saubere Angelegenheit, bei der sich die Körper nur berührten, wenn und wo es unvermeidlich war. Bahram war deshalb nicht im Mindesten vorbereitet auf den Schweiß, das
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