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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Geschichte sei erfunden, aber wenn schon! Es ist eine Geschichte für die Zeiten, in denen wir leben, nicht wahr? Ich sage Ihnen, wenn ich den Mut gehabt hätte, ich wäre zu diesem Mann hingegangen und hätte seine Füße berührt. ›Sie sind mein Guruji!‹, hätte ich gesagt.«
    Bahram war die ganze Zeit auf und ab gegangen, doch nun blieb er vor Nil stehen. »Ist Ihnen jetzt klar, Munshiji, warum khabar-dari für Geschäftsleute wie mich so wichtig ist? Sie wissen, dass wir nach Kanton reisen werden, nicht wahr? Wenn wir dort sind, werden Sie meine Augen und Ohren sein.«
    Nil erschrak: »In Kanton, Sethji? Aber wie denn? Ich kenne dort niemanden.«
    Bahram zuckte nur wegwerfend die Achseln. »Sie brauchen niemanden zu kennen. Diesen Teil können Sie mir überlassen. Sie müssen lediglich die beiden englischen Zeitungen lesen, die in Kanton erscheinen, das Canton Register und das Canton Repository . Manchmal kommen auch andere Blätter heraus, aber um die brauchen Sie sich nicht zu kümmern – für mich sind nur die zwei interessant. Es wird Ihre Aufgabe sein, sie durchzuarbeiten und mir dann Bericht zu erstatten. Das leere Geschwätz lassen Sie weg, und mir teilen Sie nur das Wichtige mit.«
    Bahram nahm eine Zeitung von seinem Schreibtisch. »Hier, Munshiji, das ist eine Nummer des Repository . Mein Freund, Mr. Zadig Karabedian, hat sie mir geliehen. Er hat einige Passagen unterstrichen. Könnten Sie mir sagen, wovon sie handeln?«
    »Ja, Sethji.« Nil überflog die Zeilen und sagte: »Offenbar sind das Auszüge aus einem Memorandum, das ein hoher chinesischer Beamter an den Kaiser gerichtet hat.«
    »Ja«, sagte Bahram. »Fahren Sie fort. Was schreibt er?«
    »›Opium ist eine giftige Droge, die aus dem Ausland zu uns kommt. Auf die Frage nach ihren Vorzügen lautet die Antwort: Sie weckt die Lebensgeister und wirkt der Trägheit entgegen. Daher erliegen die Chinesen immer wieder den Verlockungen dieser Substanz. Anfangs geht es ihnen nur darum, die Mode mitzumachen, doch im weiteren Verlauf tut das Gift seine Wirkung, die Angewohnheit wird zur Sucht, und die schlafenden Opiumraucher sind wie Leichname – hager und ausgemergelt wie Dämonen. Dies sind die Schäden, die das Opium dem Leben zufügt. Überdies ist das Rauschgift nur zu maßlos überhöhten Preisen erhältlich und kann nur mit reinem Edelmetall bezahlt werden. Im Anfangsstadium vermindert das Opiumrauchen die Arbeitsfähigkeit, und der über längere Zeit aufrechterhaltene Konsum treibt ganze Familien in den Ruin, lässt jeglichen Besitz dahinschmelzen und zerstört den Menschen selbst. Es kann kein größeres Übel geben. Verglichen mit Arsen, erkläre ich das Opium zu einem zehnfach stärkeren Gift. Ein Mann schluckt Arsen, wenn er seine Ehre verloren hat und keinen anderen Ausweg mehr sieht. In seiner Verzweiflung nimmt er das Gift und stirbt auf der Stelle. Diejenigen jedoch, die Opium rauchen, werden auf viele verschiedene Arten geschädigt.
    Wenn jemand mit dem Opiumrauchen anfängt, glaubt er offenbar, dass dadurch seine Lebensfreude vermehrt wird; er sollte jedoch wissen, dass dieses Gefühl trügt. Man könnte es damit vergleichen, dass man den Docht einer Lampe verlängert: Dadurch brennt sie zwar heller, aber das Öl wird schneller aufgebraucht und das Licht erlöscht früher. Junge Männer, die Opium rauchen, verkürzen ihre Tage, müssen jede Hoffnung auf Nachwuchs begraben und lassen ihre Eltern und ihre Ehefrau ohne Ernährer zurück; Raucher mittleren und höheren Alters beschleunigen dadurch das Ende ihrer Jahre … ‹«
    »Halt, das reicht!«
    Bahram nahm Nil die Zeitung aus der Hand und warf sie auf einen Tisch.
    »In Ordnung, Munshiji, es ist klar, dass sie ohne Schwierigkeiten Englisch lesen können. Wenn Sie wollen, haben Sie die Stelle.«
    Eines zumindest hatte Paulette über Fitcher herausgefunden: Er war ein methodischer Mensch. Deshalb wunderte sie sich nicht, als sie erfuhr, dass er sich schon vor längerer Zeit einen ausführlichen Plan zurechtgelegt hatte, wie die Herkunft der Kamelienbilder zu ermitteln sei. Seine Hoffnungen galten vor allem der von William Kerr erworbenen Illustration. Das Bild war nicht älter als gut dreißig Jahre und so gut wie sicher in Kanton entstanden; der Maler konnte also durchaus noch am Leben sein.
    »Aber Sie werden einen Experten brauchen, der den Maler identifiziert, nicht wahr, Sir?«
    »So ist es«, antwortete Fitcher.
    »Kennen Sie denn einen?«
    »Nein, aber ich weiß von

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