Der rauchblaue Fluss (German Edition)
beziehungsweise Edward Charles Chinnery, was ihre Spielkameraden sehr lustig fanden, die sie natürlich weiterhin mit ihren bengalischen Spitznamen Khoka und Robin anredeten.
Noch vernünftiger war es wohl gewesen, dass Marianne Chinnery ihren Mann dazu gedrängt hatte, seine Söhne in sein Atelier aufzunehmen, sodass sie sein Handwerk erlernen konnten, und beide arbeiteten ein paar Jahre unter den Fittichen ihres Vaters. Unglücklicherweise dauerte dieses Intermezzo nicht sehr lange: Sie waren erst knapp über zehn Jahre alt, als ihr Vater aus der Stadt floh und beide seiner Familien im Stich ließ.
Das war ein zweifacher Schicksalsschlag, denn zu dem Zeitpunkt hatte auch Marianne Chinnery das Interesse an Khoka und Robin verloren. Vielleicht war es durch den Tod ihres eigenen Sohnes schwieriger für sie geworden, sich mit ihnen zu befassen, vielleicht hatte ihre Tochter, die mit einem englischen Amtmann verheiratet war, sie gedrängt, eine Beziehung zu beenden, die für ihren Mann peinlich werden konnte, oder es lag schlicht daran, dass die größere Nähe zur kolonialen Gesellschaft ihre Sensibilität abgestumpft hatte. Wie auch immer, nach George Chinnerys heimlicher Abreise blieben Sundari und ihre zwei Söhne mehr oder minder ihrem Schicksal überlassen: Das bisschen Geld, das der Maler ihnen schickte, reichte nicht zum Leben, und Sundari musste dazuverdienen, indem sie nacheinander für eine Reihe britischer Familien kochte und sauber machte. Doch Sundari war eine erstaunliche Frau: Trotz all ihrer Schwierigkeiten setzte sie alles daran, was in ihrer Macht stand, damit ihre Söhne ihre künstlerische Ausbildung fortsetzen konnten. Der Malerpinsel, so pflegte sie zu sagen, war das Einzige, was sie vor dem Los der anderen Straßenjungen in Kidderpore bewahren konnte.
Khoka, der ältere der beiden Chinnery-Jungen, war ein strammer, dunkelhäutiger, gut aussehender Bursche mit hellbraunem Haar und umgänglichem, unbekümmertem Wesen. Er hatte eine natürliche Begabung für die Malerei, interessierte sich aber nicht sonderlich dafür; wäre er nicht der Sohn eines Malers gewesen, hätte nie auch nur der kleinste Klecks Ölfarbe seine Finger beschmutzt. Sein Bruder Robin war, dem Aussehen und auch dem Temperament nach, das ganze Gegenteil. Mit seinen vollen Wangen, den auffallenden Augen und dem kupferroten Haar sah er seinem Vater sehr ähnlich, und wie er war er eher klein und dicklich. Im Gegensatz zu seinem Bruder war Robin von leidenschaftlicher Liebe zur Kunst beseelt, die ihn beinahe daran hinderte, seine außerordentliche Begabung für das Malen und Zeichnen auch tatsächlich anzuwenden: Außerstande, irgendetwas zu schaffen, was seinen eigenen hohen Ansprüchen genügt hätte, widmete er sich größtenteils dem Studium der Werke anderer Künstler, früherer wie zeitgenössischer, und war ständig auf der Suche nach Drucken, Reproduktionen und Stichen, die er analysieren und kopieren konnte. Auch Kuriositäten und ungewöhnliche Objekte waren eine Leidenschaft von ihm, und eine Zeit lang war er häufiger Gast im Lambert-Bungalow, wo er stundenlang in Pierre Lamberts Sammlung von Pflanzen und botanischen Illustrationen stöberte. Er war mehrere Jahre älter als Paulette, hatte aber etwas Kindliches an sich, was den Alters- und Geschlechtsunterschied nebensächlich erscheinen ließ. Er hielt Paulette über die neuesten Moden auf dem Laufenden und brachte ihr allerlei Krimskrams aus der schrumpfenden Kleider- und Schmucksammlung seiner Mutter, ein Fußkettchen etwa oder einen Armreif. Paulettes Desinteresse an jeder Art von Zierrat versetzte ihn immer wieder in Erstaunen, denn er selbst hatte so große Freude daran, dass er sich den Schmuck selbst um die Fesseln oder das Handgelenk legte und sich im Spiegel bewunderte. Manchmal zogen sie sich Kleider seiner Mutter an und tanzten im Haus herum.
Robin hatte sich auch Paulettes künstlerische Ausbildung zur Aufgabe gemacht. Oft brachte er ihr Bücher mit detaillierten Reproduktionen europäischer Gemälde mit – sein Vater hatte eine Menge solcher Werke zurückgelassen, und Robin zählte sie zu seinen kostbarsten Besitztümern. Er wurde nie müde, sie zu betrachten, und da er ein ungewöhnlich zuverlässiges visuelles Gedächtnis besaß, konnte er viele von ihnen nach der Erinnerung beschreiben. Als er erfuhr, dass Paulette Illustrationen für das Buch ihres Vaters anfertigte, gab er sich große Mühe, ihr allerlei Techniken und Kunstgriffe beizubringen, etwa
Weitere Kostenlose Bücher