Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
Vom Netzwerk:
zum Mischen von Farben oder zum Zeichnen einer sauberen Linie.
    Paulettes Beziehung zu Robin war schwierig: Als Lehrer war er oft furchtbar überheblich, und seine jähzornigen Ausbrüche, wenn sie mit Stift oder Pinsel etwas falsch gemacht hatte, führten häufig zum Streit. Andererseits hatte sie großen Spaß an seinen knallbunten Kleidern, seinem urplötzlichen Lachen und seiner Vorliebe für Tratsch, und manchmal fand sie seine Versuche, ihr ihre Wildfangmanieren abzugewöhnen und eine Dame aus ihr zu machen, geradezu rührend.
    Aus all diesen Gründen spielte Robin Chinnery eine Zeit lang eine wichtige Rolle in ihrem Leben, doch damit war plötzlich Schluss, als sie ungefähr fünfzehn war. Etwa zu dieser Zeit hatte er eine seltsame Fixierung auf Jodu entwickelt und beschlossen, ein Projekt – ein Gemälde – in Angriff zu nehmen, bei dem Jodu und Paulette die zentralen Figuren sein sollten. Dazu angeregt hatte ihn eines der, nach seinen Worten, großen Themen der europäischen Kunst, doch als Paulette Genaueres wissen wollte, verweigerte er ihr die Antwort. Sie müsse das nicht wissen, meinte er, und es spiele ohnehin keine Rolle, weil er das Thema neu interpretieren und ihm einen neuen Geist einhauchen wolle.
    Paulette und Jodu waren alles andere als begeistert von dem Plan, und ihr Widerwille verstärkte sich noch, als ihnen klar wurde, dass sie stundenlang würden stillstehen müssen. Doch Robins Bitten waren so eindringlich, dass sie sich nicht einfach darüber hinwegsetzen konnten. Dies, so erklärte er ihnen, sei die Gelegenheit für ihn, ein Meisterwerk zu schaffen und zu seiner wahren künstlerischen Identität zu gelangen, und so hatten sie ein Einsehen. Etwa vierzehn Tage lang gehorchten sie seinen Anweisungen und standen Seite an Seite da, während er sich an der Staffelei abmühte. Die ganze Zeit hindurch erlaubte er ihnen kein einziges Mal, das unfertige Bild zu betrachten. Wenn sie ihn darum baten, vertröstete er sie: »Geduld, Geduld, es ist noch zu früh. Ihr bekommt es zu sehen, wenn es fertig ist.« Jodu und Paulette hatten stets ihre normale Kleidung getragen, er einen gamcha oder langot, sie einen wadenlangen Sari. Zwar hatten sie diese Gewänder auf Robins Bitten hin manchmal etwas straffer um sich gezogen, aber nie eines davon auch nur für einen kurzen Moment abgelegt – das wäre für beide unvorstellbar gewesen.
    Deshalb waren sie hellauf empört, als es ihnen endlich gelang, heimlich einen Blick auf das unvollendete Bild zu werfen: Robin hatte sie splitternackt gemalt, ohne einen Faden am Leib. Und nicht nur das, sie wirkten auch deshalb zutiefst lächerlich und schamlos, weil sie unter einem riesigen Banyan-Baum standen und den Betrachter direkt ansahen, als wollten sie ihre Nacktheit zur Schau zu stellen, als wären sie Naga-Sadhus oder dergleichen. Schlimmer noch, Paulettes Haut war aschgrau, und sie hielt eine Mango in den Händen (unter einem Banyan-Baum!), während Jodu in Tintenschwarz und mit einer aufgerichteten Kobra hinter seinem Kopf abgebildet war. Zum Glück hielt Paulette die Mango so, dass der Teil von ihr, den sie der Welt am wenigsten hätte zeigen wollen, verdeckt war, doch Jodu kam mit seiner Kobra nicht so gut weg: Die Schlange wand sich zwar um seine Hüften, verbarg aber nicht, was sie so leicht hätte verdecken können. Dieser Körperteil war nicht nur deutlich zu sehen, sondern auch so präzise dargestellt, dass der eindeutige Eindruck entstand, er sei nicht beschnitten, was in nicht geringem Maße zu Jodus Verletztheit beitrug.
    Das ganze Bild war derart grotesk und empörend, dass Jodu, der von Natur aus aufbrausend war, die Leinwand wutentbrannt von der Staffelei riss. Robin war ihm körperlich unterlegen und konnte nur Paulette bitten, Jodu zur Raison zu bringen. »Bitte, halt ihn auf, ich flehe dich an, ich hab euch als Adam und Eva gemalt, in der ganzen Schönheit eurer Unschuld und Schlichtheit; niemand wird erfahren, dass ihr es seid – bitte, ich flehe dich an, halt ihn auf!«
    Doch Paulette war fast genauso erbost wie Jodu, und statt auf Robin zu hören, hatte sie ihn geohrfeigt und Jodu geholfen, die Leinwand zu zerreißen. Robin hatte tränenüberströmt zugesehen, und am Schluss hatte er gesagt: »Wartet’s nur ab, dafür werdet ihr bezahlen. Irgendwann … «
    Von dem Tag an war er nicht mehr gekommen, und Paulette hatte sich kaum noch darum gekümmert, was die Chinnery-Jungen machten. Das wenige, was sie von ihrem weiteren Lebensweg

Weitere Kostenlose Bücher