Der rauchblaue Fluss (German Edition)
zu genießen. Aller Wahrscheinlichkeit nach werde ich meine Erdentage als Junggeselle beschließen, und ich fürchte, mein Los wird das eines einsamen Mannes sein, wenn es mir nicht gelingt, einen Freund zu finden – jemanden, dem ich ein treuer, ergebener Gefährte sein kann. Die Künstler, die ich am meisten bewundere, hatten alle Freunde, die sie in ihrem Trachten unterstützten – Botticelli, Michelangelo, Raffael, Caravaggio. Durch Lektüre über sie ist mir klar geworden, dass es ein tragischer Mangel in meinem Leben ist, keinen Freund zu haben. Ohne einen solchen Menschen werde ich niemals etwas Bedeutendes schaffen. Doch wie du weißt, meine liebe Paggli, ist es mir nie leichtgefallen, Freunde zu gewinnen – ich bin nicht wie andere Männer, und manche neigen in der Tat dazu, mich für etwas seltsam zu halten. Selbst als ich noch ein kleiner Junge war, wollte keiner mit mir spielen, nicht mal mein eigener Bruder – oh, bekäme ich doch einen Penny für jede Tracht Prügel, die ich von anderen Jungen bezogen habe! Glaub mir, ich wäre steinreich!«
»Aber Robin, findest du es nicht komisch, ausgerechnet in Kanton Freundschaft zu suchen?«
»Überhaupt nicht, liebste Paggli! Ich habe aus berufenem Munde gehört, dass es auf der ganzen Welt keinen besseren Ort für Freundschaften gibt als die Ausländerenklave von Kanton. Nirgendwo sonst findet man so viele unverbesserliche Junggesellen. Für die ist es keine Zumutung, in einer Enklave zu leben, zu der Frauen keinen Zutritt haben. Da man in Kanton außerdem viel Geld verdienen kann, ist es, glaube ich, ein höchst empfehlenswerter Ort für eingefleischte Einzelgänger wie mich. Ich habe mir sagen lassen, dass zu bestimmten Jahreszeiten Junggesellen dorthin ziehen wie Vögel an einen Überwinterungsplatz. Sogar einige von Mr. Chinnerys Freunden haben mir das auch bestätigt. Ich habe sie oft ihm gegenüber zitiert, aber das macht ihn nur wütend – er sagt, ich sei genau der Typ Mann, der mit großer Wahrscheinlichkeit den Versuchungen Kantons erliegt, und ein solches Los wolle er seinem eigen Fleisch und Blut unter allen Umständen ersparen. Er blieb so unerbittlich , dass ich schon jede Hoffnung aufgegeben hatte. Wahrscheinlich hätte er nie eingelenkt, wenn ich ihm nicht damit gedroht hätte, die einzige Waffe einzusetzen, über die ich verfüge: Ich sagte ihm, wenn er nicht seine Beziehungen spielen lasse, um mir die Genehmigung zu verschaffen, würde ich ihn vor seinen vornehmen Freunden bloßstellen und allen sagen, wie er meine Mutter, meinen Bruder und mich behandelt hat. Daraufhin hat er klein beigegeben, und jetzt ist alles unter Dach und Fach: Ich verbringe die Saison im Markwick’s Hotel in Kanton!«
»Ach, wie ich dich beneide, Robin!«, sagte Paulette. »Ich wollte, ich könnte mitkommen!«
Robin legte den Arm um sie und drückte sie. »Das wirst du auch, meine süße, liebe Pagglagolla. Ich werde dir so oft schreiben, wie ich kann – zwischen Kanton und den äußeren Inseln fahren ständig Boote hin und her, es wird also nicht weiter schwierig sein, dir Briefe zu schicken. Ich werde dafür sorgen, dass du Kanton mit meinen Augen siehst!«
»Wirklich, Robin? Kann ich dich beim Wort nehmen?«
»Natürlich kannst du das – du darfst keinen Moment daran zweifeln.« Wie um das Versprechen zu besiegeln, drückte Robin ihre Hand. »Und jetzt, liebste Paggli, möchte ich alles von dir wissen … Von dir und deinem garstigen Bruder. Erzähl – ich muss alles wissen!«
Bahram und Zadig kamen an eine Wegbiegung, und dahinter sahen sie ihn: Napoleon stand in einem Wäldchen und schaute in das Tal hinunter. Er war untersetzt und etwas kleiner als Bahram und beugte sich leicht nach vorn, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er war viel beleibter, als Bahram angenommen hatte: Sein Bauch war kugelrund, sehr ungewöhnlich für einen Mann, der ein so überaus aktives Leben geführt hatte. Er trug einen schlichten grünen Rock mit Samtkragen und Silberknöpfen, von denen jeder ein anderes Wappen zeigte; seine Hose war aus Nanking-Baumwolle, die Strümpfe jedoch aus Seide, und seine Schuhe waren mit großen Goldschnallen verziert. Auf der linken Seite des Rocks prangte ein großer Stern mit dem Reichsadler, und auf dem Kopf trug er einen schwarzen Dreispitz.
Als seine Besucher näher kamen, zog Napoleon den Hut und verbeugte sich rasch, auf eine Art, die bei einem anderen vielleicht nachlässig gewirkt hätte, in seinem Fall aber lediglich zu
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