Der rauchblaue Fluss (German Edition)
Tageszeit gehe er gern im Garten spazieren, und sie würden ihm bestimmt begegnen.
Der letzte Teil des Anstiegs war recht anstrengend gewesen; Zadig und Bahram atmeten beide schwer und schwitzten unter ihren Gewändern.
»Was für ein Kaiser ist das eigentlich?«, murrte Bahram leise. »Nicht einmal einen Diener hat er, der seine Gäste empfängt.«
Trotz der Beteuerungen des Marschalls war von Napoleon nichts zu sehen, und die Blumen erwiesen sich aus der Nähe betrachtet als ein paar kümmerliche Astern und Margeriten.
»Er könnte doch wenigstens ein paar Rosen anpflanzen, oder?«, meinte Bahram abfällig.
Sie eilten weiter und gingen gerade zwischen Gemüsebeeten hindurch, als vor ihnen jemand auftauchte. Der Mann bot nicht nur einen eindrucksvollen Anblick, er trug auch einen angehefteten Stern an der Brust. Das musste Bonaparte sein.
Die Begegnung mit einem Kaiser an einem mit Mist bestreuten Kohlbeet war eine Situation, auf die Bahram nicht vorbereitet war. Er beschloss, einfach alles genauso zu machen wie Zadig, trat ein paar Schritte zurück und hielt den Blick auf seinen Freund geheftet. Wäre Zadig niedergekniet, hätte Bahram es ihm mit Sicherheit gleichgetan, ohne Rücksicht auf den Schaden, den seine Kleidung genommen hätte, doch Zadigs Geste war etwas schwieriger zu imitieren: Er griff nach seinem Hut und entblößte sein Haupt. Einen Moment lang spielte Bahram mit dem Gedanken, ebenfalls seine Kopfbedeckung abzunehmen – machte sich aber gerade noch rechtzeitig bewusst, dass es nicht leicht sein würde, drei Meter Stoff abzuwickeln. Kaiser hin, Kaiser her – er entschied sich dafür, seinen Turban aufzubehalten. Als Ersatz verneigte er sich tief.
Sehr zu ihrem Kummer hatten sie sich umsonst bemüht: Der vor ihnen stand, war mitnichten Napoleon Bonaparte, sondern ein Ordonnanzoffizier – der sich überdies köstlich über ihren Irrtum zu amüsieren schien. »Der General ist bereit, Sie zu empfangen«, teilte er ihnen mit. »Bitte beruhigen Sie sich also.«
Da das Wetter außergewöhnlich schön war, wurden in Vorbereitung auf Robin Chinnerys Besuch auf dem Quarterdeck der Redruth Stühle aufgestellt: Im Schatten des Sonnensegels an Deck beobachtete Paulette den Besucher, als er die Fallreepstreppe heraufkam.
Sie sah schon auf den ersten Blick, dass Robin sich stark verändert hatte, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte – vielleicht so sehr wie sie selbst, nur betraf der Wandel in seinem Fall vor allem seine Kleidung und sein Auftreten. Er war nach wie vor ein kleiner, stattlicher Mann mit einer knubbeligen Nase, vorstehenden Augen und hibiskusroten Schmolllippen, doch die grellbunten Kleider, die durchsichtigen Halstücher und die glitzernden Schmuckstücke hatte er abgelegt. Er trug einen schlichten dunklen Anzug von der Art, die er früher gern spöttisch als »Livree des englischen Bürodieners« bezeichnet hatte. Jacke und Hose waren von geradezu trister Farbe, sein Hemdkragen war weder hoch noch niedrig, und auf dem Kopf trug er, der früher farbenfrohe Kopftücher bevorzugt hatte, einen schwarzen Hut.
Auch die lederne Umhängetasche mit der Messingschließe hatte nichts mit dem bestickten Pompadour gemein, ohne den er früher nicht ausgegangen wäre. Er griff hinein und nahm eine schmale Mappe heraus. Paulette konnte verstehen, was er sagte:
»Ihre Bilder, Mr. Penrose. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, auch das ältere zu kopieren, es enthält zu wenige Details. Aber hier ist meine Kopie von dem anderen – ich wette, Sie können sie nicht vom Original unterscheiden.«
»Da haben Sie recht, aber ich wette nie.«
Robins Akzent hatte sich nach Paulettes Eindruck genauso stark verändert wie sein Aussehen, wenn nicht noch stärker: Von seinem bengalischen Zungenschlag war nichts mehr zu merken. »Und Paulette, wo ist Paulette?«, rief er im weichen Tonfall eines waschechten englischen Sahib aus.
»Sie wartet dort oben auf Sie«, sagte Fitcher und zeigte zum Quarterdeck. »Gehen Sie ruhig hinauf. Ich weiß, dass Sie beide sich viel zu erzählen haben, also lasse ich Sie ein paar Minuten allein.«
Robin stieß einen kleinen Schrei aus: »Wo ist denn meine herzallerliebste Paggli?«, und ließ damit für Paulette etwas von seinem vertrauten früheren Selbst hervorblitzen. Und dann, als er den Niedergang hochgestürmt kam, war er wieder fast der gute alte Robin und schnatterte auf Bengali drauflos: »Arré Paggli, toké kotodin dekhini! – lange nicht mehr gesehen! Komm
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