Der rauchblaue Fluss (German Edition)
besagen schien, dass seine Zeit begrenzt sei und nicht mit überflüssigen Nichtigkeiten vertan werden solle. Was Bahram jedoch vor allem im Gedächtnis blieb, war sein Blick, der scharf wie ein Skalpell war und ihn durchdrang, als sollte er die kümmerliche Nacktheit seiner Knochen freilegen.
Schon seine ersten Worte verrieten, dass der General sich, soweit möglich, mit militärischer Gründlichkeit über seine beiden Besucher informiert hatte: Er wusste offenkundig, dass Zadig als Dolmetscher fungieren sollte, denn an ihn wandte er sich nach der Vorstellung.
»Sie heißen ›Zadig‹, hm?«, fragte er mit einem Lächeln. »Ist das Monsieur Voltaires Buch desselben Namens entnommen? Sind auch Sie ein babylonischer Philosoph?«
»Nein, Majestät; ich bin gebürtiger Armenier, und der Name ist in unserem Volk von alters her gebräuchlich.«
Während die beiden Männer miteinander sprachen, nutzte Bahram die Gelegenheit, den General zu mustern. Seine Statur erinnerte ihn an eines der Gujarati-Sprichwörter seiner Mutter: tukki gerden valo haramjada ni nisani – »ein kurzer Hals ist ein sicheres Zeichen für einen Mistkerl«. Doch er registrierte auch den durchdringenden Blick Napoleons, seine präzise Sprechweise, den sparsamen, aber gekonnten Einsatz seiner Hände und das leichte Lächeln auf seinen Lippen. Von Zadig wusste er, dass Napoleon, wenn es ihm beliebte, außergewöhnlich charmant sein konnte, bezaubernd geradezu. Und jetzt sah Bahram, dass selbst Sprachschwierigkeiten diese hypnotische Anziehungskraft nicht mindern konnten.
Schon bald war offensichtlich, dass jetzt Bahram Gegenstand der Konversation war, und die raschen Blicke des Generals verrieten ihm, dass er sich auf eine längere Befragung gefasst machen musste. Es war seltsam, dass über ihn gesprochen wurde, ohne dass er irgendetwas verstand, und er war froh, als Zadig sich endlich ihm zuwandte und anfing, Napoleons Worte ins Hindustani zu übersetzen.
In dieser Sprache antwortete Bahram auch, doch Zadig begnügte sich nicht mit der Dolmetscherrolle, und da er auf vielen Gebieten, die Napoleon interessierten, besser bewandert war als Bahram, wurde schon bald ein Dreiergespräch daraus, in dem Bahram über längere Zeit hinweg nur Zuhörer war. Erst viel später sollte er alles verstehen, was gesagt wurde, doch in der Rückschau erinnerte er sich ganz deutlich an alles, so als hätten Zadig und er mit denselben Ohren gehört und mit derselben Zunge gesprochen.
Napoleons erste Fragen, so erinnerte sich Bahram, waren persönlicher Natur und brachten Zadig ein wenig in Verlegenheit: Der General hatte erklärt, er sei tief beeindruckt von Bahrams Erscheinung – sein Gesicht und sein Bart erinnerten ihn an die alten Perser. In Bahrams Kleidung könne er dagegen keine solchen Ähnlichkeiten entdecken, denn die scheine indischen Typs zu sein. Deshalb brenne er darauf zu erfahren, welche Aspekte der Kultur des alten Persien sich bei den Parsen bis in die Gegenwart erhalten hätten.
Bahram war auf diese Frage gut vorbereitet, denn so oder so ähnlich war sie ihm schon oft von seinen englischen Freunden gestellt worden. Der General habe recht, erwiderte er, seine Kleidung sei in der Tat überwiegend die in Hindustan übliche, bis auf zwei wesentliche Teile: Seine Religion schreibe jedem und jeder Gläubigen vor, einen Gürtel aus zweiundsiebzig Wollfäden zu tragen, eine kusti, und ebenso einen sogenannten sadra, ein Unterhemd, und er, Bahram trage diese beiden Kleidungsstücke unter seinen äußeren Gewändern, die sich, wie der General zutreffend vermute, nicht von denen unterschieden, die jeder Landsmann seines Standes bei solch einem Anlass tragen würde. Diese Anpassung in der äußeren Erscheinung, begleitet von der Wahrung einer inneren Eigenständigkeit, erstrecke sich, so könne man sagen, auch auf andere Aspekte des Lebens in einem kleinen Gemeinwesen. In Glaubensdingen seien die Parsen ihrer Tradition treu geblieben und hätten nach besten Kräften versucht, sich an die Lehren des Propheten Zarathustra zu halten. Auf anderen Gebieten hätten sie dagegen in großem Umfang Sitten und Gebräuche ihrer Nachbarn übernommen.
»Und welches sind die grundlegenden Lehren des Propheten Zarathustra?«
»Es handelt sich um eine der ersten monotheistischen Religionen, Euer Majestät. Der Gott ihrer heiligen Schrift, der Zend-Avesta, ist Ahura Mazda. Er ist allwissend, allgegenwärtig und allmächtig. Zur Zeit der Schöpfung soll Ahura Mazda eine
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