Der rauchblaue Fluss (German Edition)
übernommen. Sie belegte eines der größten Gebäude in Fanqui-Town, das Haus Nr. 2 in der dänischen Faktorei. Im Erdgeschoss befanden sich die Büros der Kammer und der Große Saal, der Platz genug für die Generalversammlungen bot. Die Gesellschaftsräume befanden sich in der Etage darüber: Dieser Teil des Gebäudes trug den Namen »der Klub«, und hier gab es für Mitglieder, die bereit waren, zusätzliche Beiträge zu zahlen, ein Rauchzimmer, einen Schankraum, eine Bibliothek, einen Empfangsraum, eine Veranda, auf der bei geeignetem Wetter kleine Mahlzeiten serviert wurden, und einen Speisesaal mit Fenstern, die auf eine Gezeitensandbank namens Shamian hinausgingen.
Das Gebäude hatte noch eine weitere Etage, auf der mehrere luxuriöse Suiten und Konferenzräume untergebracht waren. Diese Räumlichkeiten standen nur einem engen Personenkreis zur Verfügung – dem Präsidenten und dem mächtigen Komitee, das die Handelskammer leitete. Offiziell trug dieses Organ den Namen »Komitee der Kammer«, doch in Fanqui-Town nannten es alle einfach nur »das Komitee«.
In einem Punkt unterschied sich die Kammer jedoch deutlich vom Bengal Klub und vom Byculla Klub: Ob Asiaten Zutritt gewährt wurde oder nicht, war hier nicht durch die Satzung geregelt, sondern konnte nach Gutdünken entschieden werden. Das lag an den Besonderheiten des Handels in Kanton: Ein Großteil der angelieferten Güter kam ja aus Bombay und Kalkutta. Da der Import vieler Produkte, vor allem der von Malwa-Opium, in der Hand indischer Geschäftsleute lag, wurde es als unhöflich angesehen, die Rassenbestimmungen, die in den Klubs auf dem indischen Subkontinent galten, allzu streng anzuwenden. Stattdessen setzte die Kammer ihre Mitgliedsbeiträge sehr hoch an, um – eingestandenermaßen – möglichst viele unerwünschte Personen fernzuhalten. Außerdem war es im Komitee der Brauch, mindestens einen Parsen – meist das ranghöchste Mitglied der in Kanton ansässigen Gemeinde – als Mitglied aufzunehmen. Unter den Kaufleuten aus Bombay war dies eine sehr begehrte Auszeichnung, eine Art Krönung, denn das Komitee war praktisch die inoffizielle Regierung der Ausländerenklave.
Bahram war erst eine Woche in Kanton, als Vico ihm einen Brief in den daftar brachte, der das Siegel Hugh Hamilton Lindsays trug, des derzeitigen Präsidenten der Handelskammer und Vorsitzenden des Komitees. Da er sich in den Usancen und Konventionen von Fanqui-Town gut auskannte, konnte sich Vico denken, worum es in dem Brief ging. Er grinste breit, als er ihn hochhielt: »Schauen Sie, Patrão, was ich hier habe!«
Der Brief kam natürlich nicht überraschend, doch Bahram war trotzdem aufgeregt wie ein Kind, als er das Siegel erbrach. Davon hatte er geträumt, als er vor Jahrzehnten zum ersten Mal nach Kanton gekommen war: eines Tages als Vorstand der Kantoner Achhas anerkannt zu werden.
Er lächelte: »Ja, Vico – ich bin eingeladen worden, dem Komitee beizutreten.«
Der Brief enthielt auch eine handschriftliche Einladung zu einem Dinner mit mehreren anderen Komiteemitgliedern.
Bahram schaute auf und sah, dass Vico grinste, als wäre es sein Triumph. »Arré Patrão! Sehen Sie, wie weit Sie es gebracht haben? Sie sind ein Seth der Seths! Die Welt liegt Ihnen zu Füßen.«
Bahram überging diese Huldigung mit einem Achselzucken, doch als er erneut auf den Brief blickte, schwellte ihm doch der Stolz die Brust. Er faltete ihn sorgfältig zusammen und steckte ihn in die Brusttasche seines angarkhas, wo er seinem Herzen nahe war. Das Schreiben war der Beweis, dass er jetzt in den Rang so großer Handelsherren wie Seth Jamsetji Readymoney und Seth Jamsetji Jijibhoy aufgestiegen war. Er hatte es schwarz auf weiß, dass er, Bahramji Naurozji Modi, dessen Mutter Kopftücher bestickt hatte, um über die Runden zu kommen, eine führende Rolle in einer Gruppe spielte, der einige der reichsten Männer der Welt angehörten.
Am nächsten Morgen kam Zadig mit ausgebreiteten Armen in Bahrams daftar: »Arré, Bahram-bhai! Stimmt es, dass Sie eingeladen wurden, dem Komitee beizutreten?«
Es überraschte Bahram nicht, dass Zadig auf dem Laufenden war. »Ja, Zadig Bey, das stimmt.«
»Mabruk, Bahram-bhai! Ich freue mich aufrichtig.«
»Ach, das ist nichts Besonderes«, sagte Bahram bescheiden. »Das Komitee ist nur ein Gremium, in dem Leute miteinander reden können. Hinter den Kulissen sind es immer dieselben, die alle Entscheidungen treffen.«
Zadig schüttelte heftig den Kopf.
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