Der rauchblaue Fluss (German Edition)
»O nein, Bahram-bhai. Das mag bisher so gewesen sein, aber es wird sich bald ändern.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Bahram.
»Haben Sie’s noch nicht gehört?«, fragte Zadig lächelnd. »William Jardine hat beschlossen, Kanton zu verlassen. Er kehrt nach England zurück!«
Bahram war sprachlos. William Jardine war mindestens ein Jahrzehnt lang der einflussreichste Mann in Fanqui-Town gewesen. Seine Firma, Jardine, Matheson & Company, war einer der bedeutendsten Akteure im Kantoner Handel, und er hatte seit Jahren aggressiv auf die Erweiterung des chinesischen Opiummarktes hingearbeitet. Auch in Indien hatte er ein weitgespanntes Netzwerk von Freunden und galt vielen als Idol; unter den Geschäfsleuten Bombays war Bahram einer der wenigen, die nicht so begeistert von ihm waren. Das lag daran, dass Jardine enge Beziehungen zu einer rivalisierenden parsischen Firma unterhielt und diese Allianz Bahram in der Vergangenheit oft Kopfzerbrechen bereitet hatte. Für ihn war Jardines Abreise ein langersehntes Ereignis, und deshalb konnte er kaum glauben, dass es tatsächlich eintreten sollte.
»Sind Sie ganz sicher, Zadig Bey? Warum sollte Jardine denn nach England zurückkehren? Er war seit Jahren nicht mehr zu Hause.«
»Das liegt nicht mehr in seinem Ermessen«, erwiderte Zadig. »Die chinesischen Behörden haben in Erfahrung gebracht, dass er Schiffe in die nördlichen Häfen Chinas entsandt hat mit dem Auftrag, nach Absatzmärkten für Opium zu suchen. Es geht das Gerücht, dass Jardine ausgewiesen werden soll. Dem will er zuvorkommen, indem er das Land von sich aus verlässt.«
»Wenn er weg ist«, sagte Bahram, »wird sich in der Handelskammer alles ändern.«
»Ja.« Zadig lächelte. »Ich nehme an, Sie werden viele neue Freunde gewinnen. Ich würde mich nicht wundern, wenn Mr. Dent Ihnen Avancen machen würde.«
»Dent? Lancelot Dent?«
»Wer sonst?«
Lancelot Dent war der jüngere Bruder von Thomas Dent, der eines der bedeutendsten Handelshäuser von Kanton gegründet hatte: Dent & Company. Bahram kannte Dent schon lange: ein Schotte vom alten Schrot und Korn, sparsam, bescheiden und unprätentiös. Er und Bahram waren immer gut miteinander ausgekommen, und einige Jahre lang hatten sie sich als Kompagnons gegen den übermächtigen Konkurrenten Jardine Matheson behauptet. Doch vor neun oder zehn Jahren hatte Tom Dents Gesundheit nachgelassen, und er war nach Großbritannien zurückgekehrt und hatte die Firma seinem jüngeren Bruder übergeben – und Lancelot war ein völlig anderer Mensch, zungenfertig, unverhohlen ehrgeizig, voller Missgunst gegenüber seinen Rivalen und voller Verachtung gegenüber allen, die weniger begabt waren als er. Freunde hatte er nur wenige, und seine Feinde waren Legion, doch selbst die schlimmsten unter ihnen konnten nicht leugnen, dass Lancelot Dent ein genialer, weitsichtiger Geschäftsmann war. Jedermann wusste, dass unter seiner Leitung die Gewinne von Dent & Company die von Jardine, Matheson hinter sich gelassen hatten. Doch trotz seiner kommerziellen Erfolge hatte Lancelot Dent nie viel Einfluss in Fanqui-Town besessen; im Gegensatz zu dem nicht nur ehrgeizigen, sondern auch charmanten Jardine war er ein linkischer, schroffer Mann, der es nicht verstand, die Zuneigung seiner Mitmenschen zu gewinnen. Um Bahram hatte er sich nie auch nur im Geringsten bemüht, Bahram war auch seinerseits auf Distanz geblieben, denn er hatte den Eindruck gehabt, dass der Jüngere ihn für einen komischen Alten mit überholten Ansichten hielt.
»Ich habe kaum ein Wort mit Lancelot Dent gewechselt, seit Tom nach England abgereist ist.«
Zadig lachte. »Ja, aber Sie waren damals auch nicht im Komitee, Bahram-bhai, nicht wahr? Warten Sie’s ab. Er wird sich schon an Sie heranmachen. Und er wird nicht der Einzige sein.«
»Warum sagen Sie das?«
»Die Angrezi – und damit meine ich nicht nur die Engländer, sondern auch die Amerikaner – , sind zurzeit beileibe nicht alle derselben Ansicht. Es herrscht große Ratlosigkeit darüber, was in den letzten Monaten hier passiert ist. Jardine und seine Gesinnungsgenossen drängen auf eine Machtdemonstration seitens der britischen Regierung. Doch es gibt auch andere Meinungen: Manche glauben, dass es sich nur um eine Phase handelt und dass der Opiumhandel schon bald wieder seinen alten Stand erreichen wird.«
»Aber das ist doch denkbar, oder nicht?«, fragte Bahram. »Schließlich haben die Chinesen schon oft lauthals verkündet, dass sie
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