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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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    Einmal täglich, manchmal auch öfter, fuhr eine mit leeren Fässern beladene Gig von der Redruth zu dem schmalen Kieselstrand hinüber, der die Bucht säumte. Paulette begleitete die Matrosen oft, und während die Männer ihre Fässer füllten und ihre Kleider wuschen, wanderte sie am Strand entlang oder stieg die Hänge hinauf.
    Eines Tages kletterte sie fast einen Kilometer ein steiniges Bachbett hoch. Sie kam nur mühsam voran, und da sie kaum etwas sah, was ihre Neugier geweckt hätte, wollte sie schon umkehren, als sie etwa hundert Meter weiter oben eine Mulde entdeckte, deren Flanken rötlich schimmerten. Als sie genauer hinsah, stellte sie fest, dass es sich um Blütenpflanzen handelte. Sie zog ihre Schuhe aus und stieg weiter. An einer zerklüfteten Abbruchkante zerriss sie sich ihren Rock, doch die Anstrengung hatte sich gelohnt, denn im nächsten Augenblick sah sie vor sich einen Teppich erlesener dunkelroter Blüten, die sie aus dem botanischen Garten in Kalkutta kannte: Es waren »Frauenschuh«-Orchideen – Cypripedium purpuratum.
    Erfreut lief sie den Berg hinab, und am nächsten Tag kam Fitcher mit. Diesmal stiegen sie noch höher hinauf und wurden durch eine weitere Entdeckung belohnt: eine hellrote Orchidee, die zwischen zwei Felsblöcken versteckt wuchs. Paulette kannte sie nicht, doch Fitcher bestimmte sie auf einen Blick: Sarcanthus teretifolius.
    Sie waren inzwischen sehr weit oben, und als sie sich setzten, um Atem zu schöpfen, bewunderte Paulette begeistert die prachtvolle Aussicht: Die Schiffe mit ihren hohen Masten sahen winzig aus vor dem blauen Band der Meerenge; dahinter erstreckten sich die Berge des chinesischen Festlands in die dunstige Ferne.
    »Sie hatten ja solches Glück, Sir«, sagte Paulette, »dass Sie in den Wäldern und Bergen Chinas wandern konnten. Ich stelle es mir ungeheuer spannend vor, in dieser riesigen, wunderschönen Wildnis zu botanisieren.«
    Fitcher drehte sich verblüfft zu ihr um. »Wandern? Wo denken Sie hin! Sie glauben doch nicht etwa, dass ich in Kanton in der Wildnis Pflanzen sammeln konnte?«
    »Nein?«, fragte Paulette verwundert. »Aber wie haben Sie dann all diese neuen Pflanzen gefunden?«
    Fitcher musste lachen. »In Gärtnereien – genau wie zu Hause in England.«
    »Wirklich, Sir?«
    Fitcher nickte. In den Wäldern herumzulaufen komme in China nicht infrage, weil Ausländer sich nur in Kanton und Macao aufhalten dürften. Die einzigen Europäer, die mit eigenen Augen etwas von der Flora im Landesinneren gesehen haben, seien einige Jesuiten gewesen sowie zwei Naturforscher, die das Glück hatten, diplomatische Missionen nach Peking zu begleiten. Jeder andere Pflanzensammler sei auf diese beiden südlichen Städte angewiesen, beide dicht bevölkert, laut und betriebsam, in denen es seit Jahrhunderten keine »Wildnis« mehr gebe.
    »Aber wie war das mit Mr. William Kerr?«, fragte Paulette. »Hat er nicht den ›himmlischen Bambus‹, die Begonia grandis und die Banks-Rose eingeführt? Die hatte er doch sicher nicht aus irgendwelchen Gärtnereien?«
    »O doch«, sagte Fitcher, »so war es.«
    Alles, was Billy Kerr gesammelt habe, sagte Fitcher, ja so gut wie alles, was je ein Pflanzensammler in China aufgetrieben habe – alle Begonien, Azaleen, Päonien, Lilien, Chrysanthemen und Rosen, die mittlerweile die Gärten der Welt zierten – , all diese floralen Reichtümer stammten von einem einzigen Ort: nicht aus einem Dschungel, nicht von einem Berg, nicht aus einem Sumpf, sondern aus einigen wenigen Gärtnereien, die von ausgebildeten Gärtnern geleitet wurden.
    Paulette, die gespannt zugehört hatte, holte hörbar Luft. »Ist das wahr, Sir? Und wo sind sie, diese Gärtnereien?«
    »Auf der Insel Honam, gegenüber von Kanton.«
    Am westlichen Ende der Insel befinde sich ein gut bewässerter Landstrich, sagte Fitcher. Hier lägen die Gärtnereien, von Ausländern »Fa-Tee Gardens« genannt. Der Eintritt koste acht spanische Dollar, und sie seien nur an wenigen Tagen in der Woche geöffnet.
    »Und wie sehen sie aus, Sir, diese Gärtnereien?«
    Fitcher überlegte und machte dabei mehrmals den Mund auf und zu. »Sie sind ein Labyrinth«, sagte er schließlich, »wie der Irrgarten von Hampton Court. Jedes Mal, wenn man denkt, man hätte alles gesehen, stellt man fest, dass man noch kaum angefangen hat. Man wandert einfach herum und gafft alles an, was man anschauen darf, verwirrt wie ein Schaf, wenn’s donnert.«
    Paulette umschlang seufzend

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