Der rauchblaue Fluss (German Edition)
ihre Knie. »Ach, ich wollte, ich könnte sie auch sehen, Sir.«
»Aber das wird nicht gehen«, sagte Fitcher. »Also schlagen Sie sich’s besser gleich aus dem Kopf.«
Achtes Kapitel
14. November, Markwick’s Hotel
Liebste Paggli,
bestimmt findest Du es auch schrecklich, wenn andere Dir Briefe aus fernen Weltgegenden schreiben und kein Wort darüber verlieren, wie sie untergebracht sind. Als mein Bruder in London war und mir nichts über seine Bleibe schrieb, trieb er mich damit fast zur Verzweiflung, denn als der arme kleine Kleckser, der ich bin, kann ich mir kein allgemeines Bild machen, solange ich darüber nichts weiß. Und gerade merke ich, dass mir dieser Fauxpas selbst unterlaufen ist – ich habe Dir überhaupt nicht von meinem Zimmer erzählt.
Aber nun, meine liebe Lady Paggleminster, sollst Du alles über Mr. Markwicks Hotel erfahren. Es liegt mitten im Herzen von Fanqui-Town, auf halbem Weg zwischen unseren beiden Haupt-Durchgangsstraßen, die praktischerweise auf die Namen Old China Street und New China Street hören. Darunter darfst Du Dir indes keine langen oder breiten Prachtstraßen wie die Chowringhee Lane oder die Esplanade vorstellen. Die »Straßen« von Fanqui-Town sind nicht länger, als die Enklave breit ist, nämlich keine zweihundert Meter. Sie gleichen eher parallel verlaufenden Gassen zwischen den Faktoreien: Vom Maidan führen sie zur Außengrenze der Enklave, die durch eine belebte Straße markiert wird, die Thirteen Hong Street.
Innerhalb der Enklave gibt es nur drei Straßen, und eine davon ist nicht mehr als ein winziges Gässchen wie die in Kidderpore. Sie heißt Hog Lane und ist so schmal, dass zwei Männer kaum aneinander vorbeikommen. Und ich muss sagen, liebste Paggli, dass man da zuweilen Zeuge höchst unschöner Vorkommnisse wird. Die Gasse ist von dunklen Kaschemmen und übel riechenden Buden gesäumt, in denen man einen Fusel vorgesetzt bekommt, der »hocksaw« oder »shamshoo« heißt (Letzterer, habe ich mir sagen lassen, ist mit Opium versetzt und mit den Schwänzen bestimmter Eidechsenarten aromatisiert). Diese Kaschemmen sind bei Matrosen und Laskaren sehr beliebt. Wenn sie wochenlang vor Whampao auf Reede gelegen haben, sind die armen Kerle halb verrückt vor Langeweile und so darauf erpicht, ihr Trink Geld zu verprassen, dass sie sich nicht einmal die Mühe machen, sich zum Trinken hinzusetzen. Es gibt auch gar keine Stühle oder Bänke für sie, sondern nur auf Brusthöhe gespannte Seile. Die Funktion dieser merkwürdigen Einrichtungsgegenstände (denn das sind sie) wurde mir klar, als ich fünf oder sechs Seeleute, denen Erbrochenes aus dem Mund rann, mit Kopf und Armen darüberhängen sah. Die Seile dienen dazu, sie auf den Beinen zu halten, nachdem das, was sie vorher in sich hineingeschüttet haben, wieder hochgekommen ist. Fielen sie auf den Boden, würden sie wahrscheinlich daran ersticken. Manche von ihnen verbringen so den Rest ihres Landurlaubs – besinnungslos, schwankend, über den Seilen hängend.
Ich brauche wohl kaum hinzuzufügen, dass Alkohol nicht das Einzige ist, was in diesen Etablissements angeboten wird. Man braucht nur einen Fuß in die Gasse zu setzen, schon wird man von Zuhältern bedrängt: »Wanchi gai? Wanchi jai? Was Huhn woll? Du sag. Weiß ander Sach, hab ander Sach.«
Du darfst nicht annehmen, meine liebe Miss Pagglemore, dass Dein armer Robin jemals davon träumen würde, von diesen Offerten Gebrauch zu machen. Aber es wäre müßig zu leugnen, dass es seltsam faszinierend ist, an einem Ort zu sein, wo jedes Verlangen gestillt und jeder Wunsch erfüllt werden kann (wenn auch vielleicht nicht immer zur vollen Zufriedenheit: Erst gestern sah ich im Vorbeigehen einen Matrosen im Schatten der Hog Lane verschwinden, im Arm eine Kreatur, die aussah wie eine bemalte alte Hexe. Einen Moment später stieß der tapfere Seefahrer einen furchtbaren Schrei aus: »Zu Hilfe, Kameraden! Eine Ausgeburt hat mich am Wickel, und ich seh schwarz für meine Vorschot, wenn ich nicht auf der Stelle klarkomm!«).
Die New China Street ist, verglichen mit der Hog Lane, eine richtig feine Gegend, obwohl sie nur eine laute, überfüllte Gasse ist wie die in der Nähe des Bow Bazaar in Kalkutta. Auch hier stapeln sich die Läden übereinander, auch hier zupfen Dich Schlepper an den Kleidern, bis Du Dich fragst, was sie eigentlich von Dir wollen. Die älteren Fanquis lassen sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen und bahnen sich ihren Weg mit
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