Der Rauchsalon
offiziell in der Bibliothek
und privat in den jeweiligen Zimmern der Pensionsgäste empfangen. Sie hatten zu
akzeptablen Zeiten zu kommen und zu gehen und sich so zu verhalten, daß sie die
anderen nicht störten. Im Eßzimmer hatten sie sich nur aufzuhalten, wenn sie
vorher darüber informiert wurde und nachdem eine bestimmte Summe entrichtet worden
war.
Unter gar keinen Umständen war es
Außenstehenden erlaubt, ohne Begleitung durch das Haus zu wandern und im
Privateigentum der Hausbesitzerin herumzustöbern, als befinde man sich in einem
Souvenirladen. Wenn Mr. Hartler sich mit diesen Regeln nicht anfreunden konnte,
dann mußte Mr. Hartler eben wieder gehen. Und wenn sie Mrs. Sorpende wegen
Mietrückstand an die Luft befördern mußte, konnte sie hingehen und ihm den
Haushalt führen, und er konnte ihr neue Unterwäsche kaufen.
Nachdem Sarah sich ihre kleine
Ruhepause gegönnt hatte, fühlte sie sich etwas besser, duschte, legte einen
Hauch mehr Make-up auf, als es sonst ihre Gewohnheit war, und warf sich in das
graue Satinkleid, das in jüngeren, schlankeren Jahren einmal Tante Emma gehört
hatte. Dann ging sie nach unten, um ihre Rolle zu spielen, koste es, was es
wolle.
Als sie durch die Eingangshalle zur
Bibliothek ging, stürmte Mr. Hartler zur Haustür herein, immer noch in seiner
Ausgehkluft, den Tweedhut schief auf dem zerzausten weißen Haar, den tweedgefütterten
Popeline-Regenmantel falsch geknöpft, die Arme voller Päckchen. »Für Sie, Mrs.
Kelling«, keuchte er. »Entschuldigung. Schrecklicher alter Mann. Bin viel zu
spät. Muß mich sofort umziehen. Unmöglich, um diese Zeit einkaufen zu gehen.
Hätte ich aber wissen müssen. Böser alter Mann. Glücklicher alter Mann!«
Er rannte in sein Zimmer und überließ
es Sarah, ihre Geschenke auszupacken. Er hatte ihr ein Dutzend wunderschöne
weiße Rosen mitgebracht, eine Flasche Benediktiner und eine Riesenschachtel mit
teuren Pralinen. Sie mußte zugeben, daß dies für eine Entschuldigung nicht
schlecht war.
Nachdem er sich jedoch wieder in seinem
üblichen Abendanzug zu den anderen gesellt hatte, war nichts mehr von seiner
Zerknirschung zu spüren. Wer immer ihn an diesem Nachmittag besucht hatte — nicht
jene unglückselige Dame, die sich, wie er sich ausdrückte, so garstig betragen
hatte, sondern sein anderer Besuch — hatte Fotografien mitgebracht, auf denen
angeblich nicht weniger als sieben der 62 Eßzimmerstühle abgebildet waren, die
König Kalakaua 1882 von einer Bostoner Firma hatte herstellen lassen, aber nie
abgeholt hatte. Oh Jubel, Mr. Hartler würde sie noch an diesem Abend
besichtigen können. Er war so aufgeregt, daß er sich außerstande sah, das
Abendessen auch nur anzurühren, und hoffte inbrünstig, daß Mrs. Kelling dies
nicht als Beleidigung auffasse und ihm verzeihen könne.
Noch bevor sie überhaupt am Tisch
saßen, schwirrte Sarah der Kopf. Sie hatten alle gründlich die Nase voll von
Mr. Hartler und seinen 62 Stühlen. Miss LaValliere, die am Nachmittag beim
Friseur gewesen war und jetzt noch grotesker aussah als sonst, fing an zu
schmollen, als sie erfuhr, daß Mr. Bittersohn nicht da war, um sich
beeindrucken zu lassen. Mr. Porter-Smith bekam daraufhin schlechte Laune, denn
er paßte altersmäßig immerhin besser zu Jennifer als Mr. Bittersohn, und
außerdem hatte er sie als erster getroffen.
Da Professor Ormsby sowieso nie einen
Ton sagte, hätte das Abendessen somit zur völligen Katastrophe ausarten können,
wenn nicht der vollendete Takt und das unglaubliche Feingefühl von Mrs.
Sorpende gewesen wären. Sie machte Miss LaValliere ein Kompliment wegen ihrer
neuen Frisur und Mr. Porter-Smith wegen seiner Gelehrsamkeit, bis sich beide
wieder in zivilisierte Menschen verwandelt hatten. Sie überredete Professor
Ormsby sogar dazu, eine wirklich lustige Anekdote über etwas zum Besten zu
geben, das sich irgendwann bei einer Fakultätssitzung ereignet hatte. Sie
konnte Mr. Hartler nicht soweit aus seiner Euphorie reißen, daß er sein Abendessen
zu sich nehmen konnte, aber sie schaffte es immerhin, seine Begeisterung auf
ein erträgliches Maß zu reduzieren.
Als sie schließlich zurück in die
Bibliothek gingen, waren sie alle wieder relativ gut gelaunt und mit sich und
der Welt zufrieden. Charles hatte die Geistesgegenwart besessen, den
Benediktiner mit dem Kaffee zu servieren, obwohl Sarah vergessen hatte, es ihm
zu sagen. Das erinnerte sie wiederum daran, die prächtige Pralinenschachtel
herumgehen zu lassen.
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