Der Rauchsalon
Knöchel weiß hervortraten. »Bitte, Mrs. Kelling, schonen Sie mich
nicht. Sagen Sie mir ruhig die Wahrheit. Soll ich bleiben oder gehen?«
Alles, was Sarah sagen konnte, war:
»Das hängt ganz davon ab.«
»Wovon?«
Wie sollte sie das beantworten? Davon,
ob Sie diese Person sind, die meine Pensionsgäste ermordet? Sarah versuchte so
ausweichend wie möglich zu antworten.
»Mrs. Sorpende, das kann ich Ihnen im
Moment noch nicht sagen, weil ich es selbst nicht weiß. Ich habe dieses ganze
Projekt hier angefangen, weil ich gehofft habe, daß es mich aus meiner
schrecklichen Situation retten würde, wie Sie wissen. Bisher haben sich jedoch
meine Probleme dadurch nur noch vergrößert. Vielleicht kann ich weitermachen,
vielleicht aber auch nicht. Was Sie persönlich betrifft — falls Sie der Meinung
sind, daß mich Ihre Arbeit mehr in Verlegenheit bringt als Onkel Jems
Satyriasis oder die Tatsache, daß mein Cousin Dolph sich mindestens einmal pro
Woche in aller Öffentlichkeit lächerlich macht, dann vergessen Sie das lieber
schnell wieder. Ich möchte, daß Miss Hartler auszieht, weil sie uns alle noch
mehr stört als ihr Bruder und weil sie noch schwieriger ist als Mr. Quiffen.
Sie wissen, daß ich Sie als Pensionsgast schätze, das habe ich Ihnen bereits
gesagt. Klarer kann ich mich nicht ausdrücken.«
»Klarer kann man es sich wohl kaum
wünschen. Sie sind eine sehr ungewöhnliche Frau, Mrs. Kelling.«
»Tatsächlich? Vielleicht haben Sie
recht. Ich hatte nie die Möglichkeit, so zu sein wie die anderen. Ich bin nicht
einmal zur Schule gegangen. Ich habe alles von meinen Eltern und aus Büchern
gelernt. Ich war nie irgendwo anders zu Besuch als bei irgendwelchen
Familienmitgliedern. Mein Ehemann war gleichzeitig auch mein Cousin fünften
Grades, den ich mein ganzes Leben gekannt hatte. Als besonders normales Leben
würde ich dies alles kaum bezeichnen.«
»Nein, aus Ihrer Sicht sicher nicht.
Zufällig bin ich selbst unter ganz ähnlichen Umständen großgeworden. Mit dem
großen Unterschied, daß Sie sicher und behütet gelebt haben und ich in den
leeren Ecken irgendwelcher Läden geschlafen habe, was aber auch nur dann
möglich war, wenn man uns noch nicht aus der Stadt gejagt hatte.«
»Waren Ihre Eltern denn Flüchtlinge?«
»Nein, sie waren Zigeuner. Wenigstens
meine Mutter. Mein Vater war, soweit ich weiß, ein Collegestudent, der eine
Arbeit in Sozialpsychologie schrieb und sich bei seinen Nachforschungen mehr
engagierte, als er ursprünglich geplant hatte. Ich habe nicht die leiseste
Ahnung, wie er hieß. Meine Mutter hatte keine Zeit, ihn danach zu fragen, bevor
die Polizei kam und ihre Familie weitertrieb. Sie wußte nicht einmal, daß sie schwanger
war, bis es bereits viel zu spät war, um zurückzugehen und mehr herauszufinden.
Damals war sie 14, was allerdings nach unseren Gesetzen keine akzeptable
Entschuldigung war.«
»Aber dann war sie doch noch ein Kind!«
»Mit 14 sind Zigeunermädchen keine
Kinder mehr, Mrs. Kelling. Jedenfalls hat man ihr kein zweites Mal Gelegenheit
gegeben, vom rechten Pfad abzukommen. So lange ich zurückdenken kann, mußte sie
schuften wie ein Tier und wurde mit Habichtaugen bewacht. Hier und da hat sie
ein bißchen Bildung aufgeschnappt. Mir hat man auch nicht erlaubt, zur Schule
zu gehen. Aus Angst, daß man mir dort die Ideen in den Kopf setzen würde, die
angeblich meine Mutter zu Fall gebracht haben, aber das wenige, das sie wußte,
hat sie mir beigebracht.
Wir haben alles gelesen, was wir finden
konnten: Zeitungsfetzen aus dem Rinnstein, Reklamewände, die Aufschrift auf Crackerdosen,
Filmplakate. Eine Tante von mir, die mitfühlender war als die anderen, hat ab
und zu ein Buch für uns mitgehen lassen. Egal, ob es sich um Die Geschichte
von Peter Hase oder Tips zur Einkommensteuererklärung handelte, wir
haben es verschlungen, als wäre es das Schönste auf der Welt.«
»Ich war auch immer so«, sagte Sarah,
die versuchte, irgendeine Gemeinsamkeit zu finden. »Ich habe sogar die Aufschrift
auf Aspiringläschen gelesen. Aber erzählen Sie doch bitte weiter.«
Wie unter einem Zwang fuhr Mrs.
Sorpende mit ihrer Lebensgeschichte fort. »Ich glaube, im Vergleich zu anderen
Kindern war mein Leben immer noch angenehm. Normalerweise gehen Zigeuner mit
ihren Kindern nachsichtig um. Sogar mich, das uneheliche Kind, hat man niemals
geschlagen oder hungern lassen. Ich habe zwar oft gefroren, aber das lag an den
schrecklichen Orten, an denen wir leben mußten. Und
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