Der Rebell - Schattengrenzen #2
nur dein Blitzableiter …«
»Nein, das bist du nicht. Du hast nur eine wesentlich impulsivere Art als Micha. Du reagierst ungezähmt, wie unser Vater. Damit du nicht ständig überdrehst und dich etwas am Riemen reißt, fahre ich dich öfter an als Michael. Er ist einfach nur ruhiger und folgsamer.« Oliver hob hilflos die Arme. »Das ist aber nicht das Thema. Ich habe dich und Michael unheimlich lieb. Für mich ist es wichtig, dass wir drei zusammenbleiben. Wäre ich älter, würde ich alles in Bewegung setzen, dass ich euer Vormund werde, denn ich will weder dich noch Micha aufgeben. Ihr seid meine Familie, die ich so sehr liebe, dass es mich einfach zerreißt, wenn ich daran denke, dass diese Zeit hier endet und wir getrennt werden, um in unterschiedliche Einrichtungen zu kommen.«
Er hatte gesprochen, ohne Atem zu holen. Jetzt füllten sich seine Lungen mit erfrischender Luft. Aber die Worte brannten in ihm. Er hatte sie einfach loswerden müssen, ohne von Chris unterbrochen zu werden.
»Warum bist du nicht viel früher zurückgekommen? Im Mai warst du schon gesund genug, um dich wieder normal zu bewegen und zu trainieren.« Er spie die Worte aus. Seine Augen verengten sich plötzlich. »Oder sind wir dir doch nicht so wichtig, wie du immer tust?«
»Die Wunden waren abgeheilt, aber ich musste erst mal in psychologische Behandlung.« Die wäre immer noch notwendig. Wo ist Frau Richter, wenn man sie braucht? Den Gedanken behielt er für sich. »Im Gegensatz zu euch, war ich nicht auf der Beerdigung, konnte mich nicht von Ma, Elli und Marc verabschieden. In der Zeit lag ich zum fünften Mal auf dem OP-Tisch.«
Chris prallte zurück. Die Wortwahl kam eindeutig zu hart rüber. Eine Woge der Erschöpfung überfiel ihn. Wie sollte er einem Kind beibringen, dass er allein war und mit der Situation klarkommen musste? Oliver barg das Gesicht in Händen. Er begriff sehr wohl, was Chris fertigmachte, worunter die beiden Jungs litten. Es war fraglos seine Schuld, nicht auf sie eingegangen zu sein und an ihrer Seite auszuharren. Aber zu der Zeit hatte er zu viel mit sich zu tun gehabt, mit seinem Versagen als Beschützer, als großer Bruder … Besonders mit seiner eigenen Angst, die er in der Nacht empfunden hatte. Am liebsten wäre er geflohen, ohne Rücksicht auf Verluste. Das Wissen über diesen Egoismus lag tief verkapselt. Er rührte nicht daran, nie, es tat weh und bohrte sich in seine Seele.
Es war nicht sein Versagen bei der Rettung von Elli und Marc, sondern seine eigene Feigheit, der Wunsch sich zu retten. Diese Tatsache ließ sich auch nicht damit schönreden, dass er Chris und Micha in Sicherheit gebracht hatte.
Egal, ob Chris, Micha, Elli oder Marc, er war einer der Ersten gewesen, die die Kleinen in seinen Armen gehalten, sie versorgte und beschäftigt hatte, immer. Diese tiefe Bindung konnte niemand zerstören.
»Trotzdem warst du nicht da. Dir war egal, wie es uns bei Opa ging. Du hast dich nur mit dir beschäftigt.«
»Ich bereue das.« Oliver wies mit einer Kopfbewegung auf Chris. »Das, was dir passiert ist, kann ich mir niemals verzeihen.« Er spannte die Kiefermuskulatur an. »Ihr seid solchen Gefahren ausgesetzt worden …«
Er hob die Hand, zögerte aber. Wie würde Chris reagieren, wenn er ihm die Hand auf das Knie legte, zurückweichen? Tatsächlich zitterte das knochig dünne Knie in der steifen Jeans leicht. Behutsam legte er seine Finger auf Chris’ Bein.
Der Kleine bebte, aber er wich nicht aus.
Wie winzig alles an ihm wirkte, im Vergleich zu seiner breiten, großen, muskulösen Hand.
Der Anblick berührte ihn. Chris war ein Kind, wahrscheinlich noch für viele Jahre, er hingegen ein Mann; groß, wuchtig, bedrohlich, nur gering kleiner als Riesen wie Vater, Daniel und Matthias, deutlich massiger, neunzig Kilo Muskeln und Knochen gegen einen unterernährten Knaben, der sicher nicht die Hälfte auf die Waage brachte.
»Ich liebe dich, auch wenn ich es dir oft nicht so zeige, wie es sein sollte.«
Christians Augen füllten sich mit Tränen. »Dann tu alles dafür, damit wir zusammenbleiben. Und erzähl nichts Böses über Amman. Er will uns bei sich. Er liebt uns auch. Er …«
Oliver legte ihm den Finger über die Lippen.
Sagen konnte er nichts. Zusammenbleiben? Ja, aber Aboutreika konnte er nicht trauen.
Chris schob seine Hand zur Seite und zeigte ihm das Display des Smartphones .
»Jamal freut sich schon, wenn wir kommen, schau.«
Erleichtert stellte Oliver fest, dass
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