Der Rebell - Schattengrenzen #2
Kleine presste beide Hände auf die Ohren und kniff die Augen zusammen.
Immer dieses dumme Spiel. Andererseits war es nur logisch. Amman war der Weg in ihr altes Leben. Alles würde aus Christians Sicht besser werden. Er fand einen Ersatzvater, eine liebe Ersatzmutter, bekam einen Bruder, der Elli ähnelte, und den gewohnten Luxus zurück. Keine Hausarbeit mehr, ein unbeschwertes Kinderleben.
Dass diese Fassade schnell zusammenbrechen konnte, war Chris nicht klar. Wie auch? Amman hatte Oliver gegenüber seine wahre Natur durchblitzen lassen. Für Micha und Chris war er der liebevoll rettende Engel, der die Familie zusammenführte und Glückseligkeit brachte.
Oliver neigte sich über Chris und küsste seine Stirn.
Wie sollte er ihn nur von der Wahrheit überzeugen?
Hier half kein Daniel, kein Matthias, kein Weißhaupt oder George. Das war seine Aufgabe.
Stumm legte er sich zu Chris, zog ihn an sich und vergrub sein Gesicht in den weichen Haaren. Langsam entspannte sich der Kleine. Trotzdem weinte er wieder. Olivers Pullover weichte auf Brusthöhe durch.
»Chris, ich würde all das nicht tun, wenn ich nicht endlich Frieden für uns drei haben wollte. Verstehst du das nicht?«
Ein ersticktes Schluchzen antwortete. Feine, scharfe Nägel gruben sich in Pullover und Haut.
Minuten verstrichen, in denen Chris seinen Tränen freien Lauf ließ.
Wie sollte Oliver ihn nur beruhigen?
Zärtlich küsste und streichelte er ihn. Jedes Wort wäre falsch, jeder neue Schritt in Richtung einer Erklärung ein Fehler. Das Gefühl absoluter Hilflosigkeit breitete sich lähmend aus. Ihm waren die Hände gebunden. Aber er konnte Chris nicht offenen Auges in den Untergang schicken …
»Was ist mit Jamal?« Chris hatte die Frage geflüstert.
Jamal? Was meinte er damit?
Er löste seinen Griff und strich Chris über die feuchten, roten Wangen. Der Kleine blinzelte ins Licht. Mühsam rang er nach Atem. »Wenn Amman böse ist, wird er auch ins Gefängnis gesteckt. Dann sind Jamal und Kerstin genauso allein wie wir.«
Offenbar verstand Chris sehr wohl, worum es ging, spürte vielleicht sogar die Gefahr. Trotzdem hatte er weiter gedacht als sie alle.
Das zum Thema Egoismus und blindem Eifer. Bei allem Theoretisieren war ihm der menschliche Faktor, die Konsequenz, entgangen. Eigenartig, dass er selbst nicht einmal an die Folgen gedacht hatte. Wenn er Amman ausspähte und auslieferte, zerstörte er eine Familie, zumindest das, was davon übrig war.
Betroffen zog er Chris an sich und küsste seine Stirn.
»Du hast recht, mein Kleiner. Darüber habe ich nicht eine Sekunde nachgedacht.«
Chris hatte sich beruhigt. Auf die gepackten Taschen sprach Oliver ihn nicht an, aber das Thema schien auch erledigt zu sein. In den letzten Stunden hatte er nur Zeit für Chris gefunden. Der Kleine brauchte ihn so dringend.
Obwohl er eingeschlafen war, wachte er immer wieder schweißgebadet auf und versicherte sich, dass Oliver ihn hielt.
Vor einer knappen Stunde war Michael dazugekommen. Er umfing Chris von hinten und gab ihm zusätzliche Sicherheit.
Als Oliver die beiden verließ, schliefen sie tief und fest. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es bereits Viertel vor eins war.
Wacklig und erschöpft stützte er sich auf der Balustrade ab und starrte eine Weile in die Schwärze der Halle. Im Haus war es still, so still, dass er sogar das leise Schnaufen aus Matthias Zimmer hören konnte.
Er wandte sich zur Tür um. Irgendwas wollte er doch noch machen? Was war das doch gleich? Er legte die Stirn in Falten. Was … verdammt, das Smartphone.
Das lag noch irgendwo in den Decken bei Chris im Bett.
So ein Mist. Jetzt konnte er kaum noch mal in das Zimmer schleichen und zwischen den Laken wühlen.
Er schlug sich gegen die Stirn. Wie blöd konnte man denn nur sein?
Plötzlich zog sich alles in ihm zusammen. Es kam so überraschend und heftig, dass er wankte. Rasch griff er nach der Balustrade.
Was war das? Doch ein Geist? Unfug. Der siedelte sicher seine Angriffe nicht in seinen Eingeweiden, speziell in Hals und Magen an.
Brennender Durst, aber auch Hunger tobten durch seinen Körper. Seine Kehle kratzte und in seinem Magen spürte er leichte Krämpfe, die sich mit einem diffus-flauen Gefühl abwechselten.
Er brauchte zumindest Wasser und ein Stück Käse.
Etwas Pelziges stieß gegen sein Bein.
Für einen Moment setzte sein Herz aus. Er wich instinktiv zur Seite. Opa beschwerte sich zähneklappernd.
»Du …«
Aber halt, hatte sie
Weitere Kostenlose Bücher