Der Rebell - Schattengrenzen #2
Trotzdem warf er Daniel einen fragenden Blick zu. Schulterzuckend setzte dieser sich in Bewegung.
»Er wird schon noch erklären, was los ist.«
Genau das tat Weißhaupt nicht. Er führte sie mit traumwandlerischer Sicherheit, gefolgt von zwei Vollzugsbeamten, die sie gründlich gefilzt hatten und ihnen alles abnahmen, was entfernt an Metallgegenstände, Waffen und Gürtel erinnerte. Neonlicht, kalkweiße Wände und lasierter, weißer Estrich vermittelten ein unerträglich kaltes Bild. Von der allgegenwärtigen fahlen Helligkeit keine Kopfschmerzen zu bekommen, war schier unmöglich.
Vielleicht mochte es daran liegen, dass es sein erster Besuch in einer JVA war, vielleicht entsprach sie nur dem Bild, was er sich aus Filmen und Büchern hergeleitet hatte, Fakt war, dass selbst ein steriler Krankenhausflur lebendiger wirkte als das.
Für einen alten Mann wie Walter musste diese Station in seinem Leben das Tor zur Hölle bedeuten.
Nie hätte er angenommen, dass dieser Ort so menschenfeindlich sein konnte.
»Die JVA in Wiesbaden ist dagegen ein kuschliger Ort«, flüsterte Daniel.
Mach es noch schlimmer … Die Schuld lastete schon bleischwer. Der Druck in seinem Schädel nahm Züge an, die schlimmer kaum werden konnten. Fast schien es, als drückten alle Etagen Beton über ihn auf sein Gemüt.
Weißhaupt blieb vor einer dunklen Tür stehen.
Wortlos trat einer der Vollzugsbeamten vor und öffnete. Dahinter befand sich ein fast leerer Raum. Das Mobiliar bestand aus Tisch und Stühlen. Ein großer, massiger Mann mit dunkler Haut und dichtem, schwarzem Haar stand gelassen neben dem Tisch. Ein weiterer, offenbar ein Arzt, redete leise mit ihm. Beide hoben den Kopf, nickten grüßend, traten aber lautlos zurück.
Oliver fuhr zusammen.
Walter saß auf einem Stuhl. Der resolute Mann schien verschwunden zu sein. Schlimmer noch, er wirkte krank, weitaus älter, als er war. Seine blassen Wangen waren eingefallen und grau, die Augen lagen tiefer in den Höhlen. Die alte Haut spannte sich über Schädel und Wangen, hing aber in langen, unausgefüllten Falten über den Kragen seines karierten Hemdes. Die Altersflecken hatten sich gemehrt. Dafür war er nun bis auf ein paar dünne Strähnen vollkommen kahl. Der Raum füllte sich mit dem Geruch nach Alter.
Knotig ruhten seine Finger auf der Tischplatte. In großen Placken zeigten sich Hämatome, die die dicken Adern verdeckten. An seinem Stuhl lehnte der Gehstock.
Unter halb gesenkten Lidern und verklebten Wimpern starrte er zu Oliver oder auf irgendeinen Punkt weit hinter ihm. Innerhalb weniger Tage schien Walter um zehn, vielleicht zwanzig Jahre gealtert zu sein.
Eine heiße Woge Mitleid ergriff ihn. »Walter.«
Die kalten Adleraugen öffneten sich ganz, fokussierten, fassten ihn in den Blick. Einen Moment später senkte Walter die Lider und lächelte traurig. »Oliver.« Die sonst so harte, hasserfüllte Stimme klang sanft.
War das Walter? So weich konnte dieser Mann doch gar nicht reagieren. Nie und nimmer, oder stand er dem Mann gegenüber, zu dem der kleine, freche Bengel, dessen Foto er in der Hosentasche trug, hätte werden sollen? Walter, der einst von einem Mädchen Tristan genannt worden war, ein Mensch voller Gefühle?
»Geh ruhig.« Daniels sanfter Druck auf seiner Schulter löste das Band. Mit wenigen Schritten eilte er durch den Raum, umrundete den Tisch und kniete vor Walter nieder.
Wo blieben die entsetzten Ausrufe, die Aktionen seitens der Vollzugsbeamten? Niemand regte sich.
Ging von Walter so wenig Gefahr aus?
Eine staubtrockene, zittrige Hand berührte Olivers Wange. Die Finger fühlten sich kalt an, schlecht durchblutet. Sie rochen unangenehm, ungepflegt. Unter den schartigen Nägeln hatte sich Schmutz abgesetzt. In den tiefen Rissen in seinen Fingerkuppen hafteten Staub und Druckerschwärze von Millionen Büchern, die durch seine Hände gegangen waren.
Unter all den Eindrücken lag in der Berührung verzweifelte Zärtlichkeit.
»Mein Junge.«
Olivers Herz raste. Mein Junge? Und das in diesem liebevoll leisen Tonfall? Was war nur mit Walter geschehen?
Die Antwort lag auf der Hand. Er befand sich nicht mehr unter dem schädlichen Einfluss des alten Hauses. Dieses Haus hatte ihn vergiftet, das Haus und all seine Monstrositäten . Wahrscheinlich erst, nachdem er seine Isolde verloren und im Krieg seine Menschlichkeit eingebüßt hatte. Damals konnte er gar nicht anders gewesen sein als jetzt.
Olivers Herz zog sich schmerzhaft zu einem
Weitere Kostenlose Bücher