Der Rebell - Schattengrenzen #2
Reibeisen. Seine Lungen rasselten.
»Gern. Ich will ohnehin zu Chris und Micha.«
Mit einem Satz überwand er die Holzstufen zum Tresen. Walter versuchte, ihm in den Weg zu treten.
Viel zu langsam. Oliver fiel es nicht schwer, sich einfach an dem alten Mann vorbeizuwinden .
Walter wandte sich um. »Verschwinde!«
Sein hasserfüllter Blick traf, tat aber nicht wirklich weh. Walters Reaktion war nicht einmal unlogisch. Ganz und gar nicht. Sollte er sich deswegen wie Dreck behandeln lassen?
Wohl kaum. Letztlich musste er nicht hier leben.
Wütend schüttelte er den Kopf. »Vergiss es.«
Walter lebte unter dem Dach. Sein Appartement erstreckte sich über die gesamte Grundfläche des Hauses. Jeden Tag mehrfach die fünf Etagen zu laufen und zusätzlich 150 Quadratmeter sauber zu halten, war Irrsinn für einen alten Mann. Offensichtlich störte es Walter nicht. In diesem Punkt bewunderte Oliver ihn. Unbegreiflich, wie viel Energie in diesem uralten Körper steckte.
Auf den einzelnen Etagen begegneten ihm neugierige Nachbarn, ausnahmslos alte Leute. Einige diskutierten miteinander, andere starrten ihn an. Zumeist standen sie im Weg.
Während er sich an ihnen vorbei drängte, folgten ihm böse Worte. Vollkommen egal, sollten sie ihn für einen ungehobelten Idioten halten. Er ignorierte das Brennen seiner Muskeln. Ihn machten die Stufen nicht fertig, aber sie nervten. Er wollte nur noch zu Chris und Micha.
Dank Daniels Anwesenheit hielt ihn kein Beamter mehr an. Auf den obersten Stufen hockte Michael in seinem Schlafanzug, den Kopf auf den Knien, das blonde Haar ungekämmt. Er trug nicht einmal Schuhe oder Socken. Seine Füße waren wächsern.
»Micha.«
Sein Kopf zuckte hoch. Aus rot geweinten, entzündeten Augen starrte er Oliver an. Wortlos sprang er auf und stolperte ihm entgegen. Seine dünnen Arme umschlossen Olivers Hüften. Michaels Schädel bohrte sich regelrecht in seine Brust. Eine Woge unterschiedlichster Gefühle überrollte Oliver – Sorge, bohrende Angst, Wärme, Liebe, Schmerz. Michael je wieder loslassen? Nein.
Dieser zierliche Kinderkörper in seinen Armen war eine Hälfte seines Lebens. Impulsiv umklammerte er Michael und drückte ihm einen Kuss ins Haar. Trotzdem war es unklug, ihn zu lang zu halten. Schließlich war er vom Regen vollkommen durchgeweicht. Wer weiß, wie lang Michael schon hier saß? Er musste nicht auch noch krank werden.
»Warum bist du nicht im Warmen?«
Der traurige Blick, der ihn traf, ließ Oliver das Blut in den Adern gefrieren. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Chris – war er etwa … »Was ist mit Chris?«
Michael schniefte. »Der Arzt ist bei ihm.« Mühsam rang er nach Luft. Es half nichts.
»Komm, Micha, wir gehen erst mal rein.« Daniel, der Oliver gefolgt war, lächelte. Mit seinem Daumen strich er die Tränen unter den Augenlidern Michaels fort.
Oliver nickte zustimmend. Er ging in die Knie und hob den Kleinen hoch. Mit beiden Armen umschlang Michael seinen Nacken und lehnte sich an.
Mein Gott, was für ein Fliegengewicht. An Micha war nichts dran. Unter dem Stoff stachen die Schulterblätter hervor. Steiß und Becken bohrten sich in seinen Unterarm.
Bekamen sie nichts zu essen?
Die beiden Jungen Walter überlassen? Niemals.
»Mein Kleiner.« Sanft küsste er die Wange des Jungen. »Ich bin wieder da und kümmere mich um euch.«
»Bring ihn erst mal aus der Kälte und steck ihn ins heiße Wasser. Micha holt sich sonst noch eine Lungenentzündung.«
Daniel hatte recht. Rasch schob er sich durch die offene Wohnungstür in den langen, dunklen Flur.
Der Geruch nach Kräutertee, Medikamenten und Essen lag in der staubigen Luft. Viele Füße hatten den fadenscheinigen Teppich auf den ausgetretenen Dielen zusammengeschoben. Im Flur stand eine zusammengefaltete Trage gegen die Wand gelehnt. Im Durchgang zum Kinderzimmer lag ein offener Metallkoffer. Stimmen drangen aus dem Raum. In der Küche bewegten sich Schatten über den Boden.
Oliver drückte Michael enger an sich. Langsam ging er am Kinderzimmer vorbei. Die Tür stand offen. Ein Sanitäter legte gerade ein Blutdruckmessgerät um Christians mageren Arm, während der Notarzt sich umwandte. Es war ein ernst aussehender Mann mittlerer Jahre mit einer dünnen Metallrahmenbrille. Über den Glasrand musterte er Oliver. Plötzlich nickte er einem weiteren Sanitäter zu, der ihm eine kleine, transparente Flasche und eine Spritze reichte.
»Machen Sie dem Kleinen eine GlucaGen -Infusion
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