Der Rebell - Schattengrenzen #2
Linienverkehr aber spätestens dort ins Stocken. Oliver warf einen Blick zurück.
Große Gelenkbusse mussten die Ansammlung der Polizeifahrzeuge umfahren. Zusätzlich erschwerten Schaulustige den Fluss. Nachbarn und Passanten standen auf dem Bürgersteig und beobachteten, was passierte. Vereinzelt folgten ihnen auch neugierige Blicke. Sicher waren bereits Lokal-Reporter hier. Schließlich lag das Pressehaus nur einen halben Kilometer entfernt in der Fußgängerzone.
Morgen waren die Wiesbadener Zeitungen mit Spekulationen und Herleitungen angefüllt – nein, eigentlich nicht. Dafür gab es ja Pressesprecher. Die Bild würde sich hier sicher nicht blicken lassen.
»War das Baden nicht ziemlicher Essig?«
Irritiert musterte er Michael.
»Es regnet.«
Oliver legte seinen Arm um Michaels Schultern und drückte ihn an sich. »Ich weiß. Anders bin ich Roth aber nicht losgeworden.«
Der fragende Blick brachte ihn zum Lächeln.
»Ich will nicht unbedingt unter Gregor Roths Nase in den Keller stiefeln und mich nach etwas umsehen, was ich ihm nicht erklären kann, verstehst du?«
Micha schob seine Arme unter Olivers Jacke. Die direkte Nähe behinderte zwar beim Gehen, aber es war schön. Eine Woge tiefer Zufriedenheit breitete sich in ihm aus. Allein die Nähe und Liebe, die ihm Michael schenkte, war unbezahlbar. Zärtlich streichelte er über das weiche, feuchte Haar.
»Dann glaubst du mir?«
Diese Frage holte ihn unsanft auf den Boden zurück.
Widerwillig nickte er. Michael atmete erleichtert auf.
Sie bogen nach links in eine der prächtigen, baumgesäumten Straßen ab. Gut erhaltene Wohnhäuser aus der Jahrhundertwende, dem Klassizismus und dem Jugendstil erhoben sich rechts und links. An den verputzten oder geklinkerten Fassaden rankten Wein und Efeu. Gepflegte oder wildromantische Vorgärten gaben der Adelheidstraße ihr unverwechselbares Aussehen. Durch das dichte Blätterdach der hohen Bäume drang nur wenig Regen. Von Zeit zu Zeit traf sie ein einzelner Tropfen. Das war eine weitaus schönere Ecke als die Oranienstraße .
Oliver schlug bei nächster Gelegenheit den Weg nach links ein, um zum Haus zurückzukommen.
Bald ließen sie die grüne Pracht zurück. Statt Kopfsteinpflaster Betonplatten, statt Vorgärten enge Bürgersteige und dicht beparkte Straßenränder. Am Kiosk standen bereits die Ersten nach Dosenbier an.
Schlechte Gegend – besonders für Kinder. Oliver ging schneller. Wenige Minuten später erreichten sie den Hauseingang. Roth war nirgends zu sehen, nur die Beamtin, die Oliver vorhin fast umgerannt hätte. Rasch huschten sie hinter ihr in den Windfang.
Modrige Kühle empfing sie. In Olivers Nacken kribbelte es unangenehm. Er blieb auf den Stufen stehen und sah hinab. Beobachtete sie jemand? Tatsächlich sahen einige Passanten nach drinnen. So wie sie blinzelten, erkannten sie sicher nur Schatten.
Machte ihre Gegenwart ihn so nervös?
Er schauderte. Die Mauern atmeten etwas Bedrückendes aus.
Dieser Ort ist von Trauer und Schmerz durchtränkt.
Dieses Mal fehlte jede Herausforderung in der Stimme. Es war eine Feststellung, nichts sonst.
Michael keuchte. Seine scharfen Nägel bohrten sich in Olivers Haut.
Abrupt wandte er sich dem Hochparterre zu – und fuhr zusammen. Direkt hinter der Tür des Windfangs stand sein Großvater. Erschrocken wich er eine Stufe hinab.
In den tief liegenden Augen des Alten flammte unverhohlener Zorn. Die bleiche, faltige Haut spannte sich wie trockenes Pergament um den Schädel des alten Mannes. Er entblößte seine gelben Zähne. Speichel sammelte sich in den Mundwinkeln. Alle Menschlichkeit war aus dem alten Mann gewichen.
Ein weiteres Mal stieß er seinen Stock auf.
Wer war er – Gandalf ? Fehlte nur noch, dass er sagte: Du kommst nicht vorbei!
Aber die Art der Lektüre fehlte sicher in seinem Laden.
Er wirkte beinahe lächerlich, trotz der Tatsache, dass er noch immer beeindruckend groß war und breitbeinig wie ein Offizier dastand. Die Vorstellung eines jungen Walter Markgraf in Uniform, mit einem Gewehr in der Hand, legte sich über die Wirklichkeit.
Michael zog ihn an der Hand.
Er warf Walter einen Blick zu und drängte sich an ihm vorbei. Mit erstaunlicher Gewalt packte der Alte ihn am Handgelenk. Dumpfe Schmerzen zogen durch Hand und Unterarm. Oliver zischte ärgerlich. Er blieb stehen, obwohl Michael nun beinahe panisch an ihm zerrte.
»Lass los, Walter.«
Unwillig ballte er eine Faust und drehte sich unsanft aus dem harten
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