Der Rebell - Schattengrenzen #2
war anders. Er befand sich in einer Zone vollkommener Zeitlosigkeit. Wie in einem Traum, in dem er nur Beobachter war, pulsierte die Wirklichkeit um ihn. Michas Gesicht an seiner Brust, das stumme, trockene Schluchzen, die schlurfenden Schritte Walters auf dem Schutt übersäten Boden, das entsetzte Zucken Weißhaupts und der Schatten des Wächters, dessen Gestalt dicht am Rand des Lichtkegels entlang schlich.
War das nicht endgültig zu viel? Warum kippte sein Verstand nicht auf den keimenden Wahnsinn zu? Wo blieb eine Reaktion auf noch mehr Tote? Die Kälte in seiner Seele kroch entsetzlich langsam durch seine Adern. Innerlich gefror etwas. War es Verstand oder Menschlichkeit?
Sieben – auf der anderen Seite der eingesunkenen Wand lagen die sterblichen Überreste von sieben Menschen. Einige waren so klein – wie Marc und Elli.
Der Gedanke löste einen brennenden Stich in seinem Herz aus. Sieben Tote. Wenn sein Vater Erfolg gehabt und sich schließlich selbst umgebracht hätte, wären sie auch sieben gewesen.
Großer Gott – was für ein abartiger Gedanke.
Gequält stöhnte er. Mit aller Macht zerriss der Schleier. Die brutale Realität überrannte ihn. Kochend heiß überschwemmten Wut, Leid und Trauer seinen Verstand. Die geballten, verdrängten Gefühle sengten durch seine Nerven, elektrisierten ihn, sensibilisierten die Wahrnehmung.
Die Stille des Hauses dröhnte in seinen Ohren. Schwache Erschütterungen des nah vorbeifahrenden Busses zuckten durch den Boden, begleitet von dem sonoren Dröhnen eines starken Dieselmotors. Kleine Krallen kratzten über den Boden. Die Schritte Walters, das dumpfe Geräusch, wenn er den Gummistopfen seines Gehstocks auf der Treppe aufsetzte, all das drang zu ihm. In der Luft flirrten Staub, Wassertröpfchen und Sand. Der Gestank nach Nässe, dem allgegenwärtigen Moder, unter den sich der warme Hauch von Schweiß und das Aroma des Wächters gemischt hatte, überlagerte den Leichengeruch.
Was war das? Warum nahm er seine Umwelt so viel klarer wahr?
Weißhaupt schaltete seine Lampe aus und wandte sich zu ihnen um. »Kommt, Jungs!«
Oliver saß zusammen mit Michael im Font des Passats. Neben ihm lag eine Tasche, mit den notwendigsten Kleidern der Zwillinge und ein Rucksack mit allen Schulheften und Büchern. Während Daniel viel zu schnell durch den mittäglichen Verkehr raste, verwusch die Strecke zur Klinik zu grauem Nichts.
Weißhaupt schloss sie aus – ganz klar warum. Das war nichts für Kinder. Kinder? Innerlich rollte Oliver mit den Augen. Er war keines mehr.
Der Kommissar sorgte sich. Das begriff er. Für sie alle war es ein Schock. Aber warum verstand Weißhaupt nicht, dass er sich auf einem Weg befand, auf dem es jetzt keine Umkehr mehr gab? Der Horror, den er erlebte, hatte nichts mehr mit der Mordnacht gemein. Wenn er diese Geschöpfe nicht für den Rest seines Lebens um sich haben wollte, musste er ihren Geheimnissen bis in den Kern folgen. Sich zu verstecken, half nicht. Das Problem war nur, Weißhaupt sah diese Wesen nicht, Michael und er schon. Wie sollte er den Kommissar von etwas überzeugen, das er nicht mitbekam? Weißhaupt sah den Kriminalfall, er das Mysterium. An verschiedenen Stellen trafen sich diese beiden Wege, liefen parallel, drifteten aber auch wieder auseinander. Für Bernd Weißhaupt musste es also so aussehen, als stünden Micha und er unter Schock. Der Weg hoch in die Klinik verband drei Dinge für den Kommissar. Er konnte sein Versprechen halten, damit sie Chris sahen, sie konnten sich behandeln lassen und er war sie los. Weißhaupt wusste nur nicht, dass sein Verstand bereits wieder klar und genau arbeitete.
Frustriert seufzte er. Abgeschoben … das einzig Gute, sie bekamen auf diesem Weg die Chance, bei Chris zu bleiben. Vielleicht gewann Oliver so etwas Zeit, sich um ein weiteres Problem Gedanken zu machen, was weitaus realer war – ihre Zukunft. Noch stand nichts fest. Alles befand sich im Umbruch. Roth schien nicht zu wissen, was nun geschehen sollte, oder er wusste es genau, schwieg aber.
Vielleicht hatte er sich Daniel gegenüber geäußert.
»Wie geht es nun mit uns weiter?«
Daniel sah kurz in den Rückspiegel.
»Das entscheidet sich noch, denke ich.«
Der Aussage fehlte die Konsistenz.
»Welche Optionen bestehen denn?«
»Kommen wir wieder zu Opa?«, fragte Michael. Er verdrehte sich in Olivers Arm so weit, dass auch er Daniel sehen konnte.
»Das sicher nicht mehr.«
»Bitte?« Oliver neigte sich nach
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