Der Regenmacher
schon spät, fast dunkel, und auf der Veranda brennt kein Licht. Die schwere Holztür steht weit offen, und durch das Fliegengitter kann ich eine kleine Diele erkennen. Ich finde keinen Klingelknopf, also klopfe ich leise an die Fliegentür. Sie klappert lose in den Angeln. Ich halte den Atem an – kein Hundegebell.
Kein Laut, keine Bewegung. Ich klopfe ein bißchen lauter.
»Wer ist da?« ruft eine vertraute Stimme.
»Miss Birdie?«
Eine Gestalt bewegt sich durch die Diele, ein Licht wird eingeschaltet, und da ist sie, in demselben Baumwollkleid, das sie auch gestern im Cypress Gardens Senior Citizens Building getragen hat. Sie blinzelt durch die Tür.
»Ich bin’s, Rudy Baylor. Der Jurastudent, mit dem Sie gestern gesprochen haben.«
»Rudy!« Sie ist hoch erfreut, mich zu sehen. Einen Moment lang bin ich etwas verlegen, dann plötzlich traurig. Sie lebt allein in diesem monströsen Haus, und sie ist überzeugt, daß ihre Angehörigen sie im Stich gelassen haben. Der Höhepunkt ihres Tages besteht darin, daß sie sich um diese alten Leute kümmert, die zum Lunch und ein oder zwei Liedern zusammenkommen. Miss Birdie ist ein sehr einsamer Mensch.
Sie hakt schnell die Fliegentür auf. »Kommen Sie herein, kommen Sie herein«, sagt sie ohne auch nur einen Anflug von Neugierde. Sie ergreift meinen Ellenbogen und zieht mich durch die Diele und einen Flur entlang, wobei sie einen Lichtschalter nach dem anderen betätigt. An den Wänden hängen Dutzende von alten Familienporträts. Die Teppiche sind staubig und abgetreten. Es riecht schimmlig und muffig – ein altes Haus, das dringend geputzt und renoviert werden müßte.
»Wie nett von Ihnen, mich zu besuchen«, sagt sie zuckersüß, ohne meinen Ellenbogen loszulassen. »Hat Ihnen der Besuch bei uns gestern Spaß gemacht?«
»Ja, Madam.«
»Wollen Sie nicht bald einmal wiederkommen?«
»Ich kann es kaum abwarten.«
Sie deponiert mich am Küchentisch. »Kaffee oder Tee?« fragt sie, während sie auf Schränke zusteuert und auf Lichtschalter drückt.
»Kaffee«, sage ich, dann sehe ich mich um.
»Mögen Sie Pulverkaffee?«
»Natürlich.« Nach drei Jahren Jurastudium kann ich Pulverkaffee nicht mehr von echtem unterscheiden.
»Milch? Zucker?« fragt sie und greift in den Kühlschrank.
»Schwarz, ohne alles.«
Sie setzt das Wasser auf und stellt die Tassen bereit, dann läßt sie sich mir gegenüber am Tisch nieder. Sie strahlt übers ganze Gesicht. Ich habe ihren Tag gerettet.
»Ich freue mich ja so, Sie zu sehen«, sagt sie zum dritten oder vierten Mal.
»Sie haben ein wunderschönes Haus, Miss Birdie«, sage ich, die muffige Luft einatmend.
»Oh, danke. Thomas und ich haben es vor fünfzig Jahren gekauft.«
Töpfe und Pfannen, Ausguß und Wasserhähne, Herd und Toaster – alles ist mindestens vierzig Jahre alt. Der Kühlschrank stammt offensichtlich aus den frühen sechziger Jahren.
»Thomas ist vor elf Jahren gestorben. Wir haben unsere beiden Söhne in diesem Haus großgezogen, aber über die möchte ich lieber nicht reden.« Ihr fröhliches Gesicht ist einen Moment lang ernst, aber das Lächeln kehrt rasch zurück.
»Klar. Natürlich nicht.«
»Lassen Sie uns von Ihnen reden«, sagt sie. Das ist ein Thema, das ich nun lieber vermeiden würde.
»Klar. Weshalb nicht?« Ich wappne mich für ihre Fragen.
»Wo kommen Sie her?«
»Ich bin hier geboren, aber in Knoxville aufgewachsen.«
»Wie nett. Und wo haben Sie das College besucht?«
»Austin Peay.«
»Austin was?«
»Austin Peay. Das ist ein kleines College in Clarksville. Staatlich gefördert.«
»Wie nett. Weshalb sind Sie zum Jurastudium an die Memphis State gekommen?«
»Es ist eine gute Universität, außerdem gefällt mir Memphis.« In Wirklichkeit gab es noch zwei weitere Gründe. Memphis State hat mich angenommen, und ich konnte sie mir leisten.
»Wie nett. Wann graduieren Sie?«
»In ein paar Wochen.«
»Und dann sind Sie ein richtiger Anwalt, wie nett. Wo werden Sie arbeiten?«
»Das weiß ich noch nicht genau. In der letzten Zeit habe ich öfters daran gedacht, mein eigenes Schild aufzuhängen, Sie wissen schon, eine eigene Kanzlei zu eröffnen. Ich bin eher der Einzelgängertyp, und ich weiß nicht, ob ich für andere Leute arbeiten könnte. Ich würde gern auf meine Art Jura praktizieren.«
Sie schaut mich nur an. Das Lächeln ist verschwunden. Ihr Blick ist erstarrt und läßt mich nicht los. Sie ist verblüfft. »Das ist ja wundervoll«, sagt sie schließlich,
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