Der Regler
gar nicht an sich selbst, sondern an einen anderen Menschen, den er einmal gut gekannt und gemocht hatte und von dem er nicht mehr wusste, wo er abgeblieben war. Ein Student der Physik war er damals gewesen, und für einen Moment schien es ihm jetzt in der Kirche so, als wäre er wieder mühelos in der Lage, eine Differentialgleichung zu lösen – obwohl das über zwanzig Jahre her war. Im Südflügel der Technischen Universität in München hatten die Vorlesungen stattgefunden, ein Betonbau, heute abgerissen. Ein dunkelblaues Rennrad hatte er damals gehabt, Marke
Montarino
, zehn Gang, einen Squashschläger von Dunlop, Typ
Maxplay
und ein Apartment im Studentenhochhaus in Freimann. Eine Freundin hatte er damals gehabt, Helen, eine Engländerin aus Bristol – und einen besten Freund. Gabriel, dieser Typ, der eines Tages in der Vorlesung für Theoretische Physik aufgetaucht war, der irgendwie ausländisch aussah, den man sich sofort bei einer PKK -Demonstration hatte vorstellen können, der dann aber den Mund aufmachte und mit Südtiroler Akzent sprach.
Er war gar nicht an der Technischen Universität eingeschrieben, studierte an der Ludwig-Maximilian-Universität Psychologie und Philosophie. Aber die Relativitätstheorie interessierte ihn – die Dehnung der Zeit, die Krümmung des Raumes – und die Quantenmechanik, die Gesetze der Unschärferelation. Irgendwann hatten sie einmal durch Zufall nebeneinander gesessen und sofort angefangen zu diskutieren. »Wenn ich mich also viel schneller bewege als du«, hatte Tretjak gesagt und damit auf ein Phänomen der Relativitätstheorie angespielt, »dann vergeht meine Zeit langsamer als deine und du alterst schneller. Gilt das auch, wenn ich viel schneller denke als du?« Heute schien es Joseph Lichtinger, als hätte diese Art der Diskussion in den folgenden zwei Jahren ununterbrochen zwischen ihnen beiden stattgefunden, in den Vorlesungen, in den Cafés, nachts auf Partys, bei Spaziergängen an der Isar … sie wurde sogar fortgeführt, wenn sie sich nicht sahen, weil jeder für die nächste Begegnung Munition sammelte, Fragen, Phänomene, Thesen. Und im Grunde kreisten sie dabei immer um zwei Fragen. Kann man vorhersagen, was im Leben passieren wird, wenn man die Fakten der Ausgangslage genau kennt? Und umgekehrt: Wie nachhaltig kann man den Lauf der Dinge ändern und steuern, indem man an einer Stelle geschickt die Fakten verändert?
Alle Wissenschaften hatten sie in ihre Diskussionen einbezogen, wie Junkies hatten sie sich immer neuen Stoff besorgt, aus der Biochemie, der Gehirnforschung, aus der Kommunikationsforschung … Wetten hatten sie abgeschlossen. Gelingt es, das Paar dort drüben am Fenster im Restaurant so zu manipulieren, dass die beiden einen heftigen Streit miteinander anfangen? Meist war es Tretjak, der auf so etwas setzte, erst genau beobachtete und dann aktiv wurde. Er stieß zum Beispiel im Vorbeigehen ein Weinglas um, das sich über das Kleid einer ohnehin schon nervösen Frau ergoss. Ein andermal drängte er einem schüchtern wirkenden Mann ein Gespräch auf. Dieser schaffte es nicht, es zügig zu beenden, was wiederum seine Frau ärgerte … Danach saßen sie einfach da und sahen zu, was passierte.
Spiele hatten sie veranstaltet. Einmal hatte Tretjak einen Privatdetektiv angeheuert, der ihn, Lichtinger, heimlich überwachen sollte. Er hatte eine diebische Freude daran, den Detektiv zur Verzweiflung zu treiben, indem er, wie er sagte, ein bisschen Quantenmechanik inszenierte. So verwandelte sich Tretjak zum Beispiel mit Hilfe einer blonden Perücke und entsprechender Kleidung in eine Kopie Lichtingers und sorgte dafür, dass der Detektiv einerseits sah, wie Lichtinger von seinem Fahrrad stieg und auf eine Haustür zuging. Andererseits aber auch das Gegenteil, und zwar gleichzeitig: Lichtinger kam aus dem Hauseingang und stieg auf sein Fahrrad. Tretjak interessierte an diesem Spiel vor allem sein Ende, also der Bericht des Detektivs. Es faszinierte ihn, wie Menschen das, was sie wahrnahmen, in ihrem Gehirn so lange umprogrammierten, bis es eine Logik ergab, die in ihr Denken und ihr Leben passte.
»Du kannst dich mit allen anlegen«, hatte Lichtinger einmal gesagt, »nur nicht mit den Gesetzen der Physik.«
»Das hat Newton auch gesagt«, hatte Tretjak gelacht, »aber dann kam Einstein. Und dann hat Einstein es selbst gesagt. Aber dann kam Heisenberg.«
Einem plötzlichen Impuls folgend, stand Lichtinger auf, trat hinter den Altar und
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