Der Regler
mich nicht. Ich war ihnen irgendwie zu negativ. Deshalb bin ich Chefredakteur meiner eigenen Zeitschrift geworden.«
Als Kommissar Maler im Aufzug verschwunden war, ging Treysa in sein Büro zurück. Er saß noch nicht, da nahm er sein Handy und rief Gabriel Tretjak an.
»Hallo. Bei mir war gerade der Kommissar. Er hat mich über Kufner ausgefragt.«
»Hat er nach mir gefragt?«, fragte Tretjak.
»Nein«, sagte Treysa.
Oberronnberg, Niederbayern, 11 Uhr
Pfarrer Joseph Lichtinger sperrte die kleine Kirche in Oberronnberg mit gemischten Gefühlen auf. Es war kurz nach elf Uhr vormittags, und er war fast eine Stunde zu früh für seine Verabredung. Aber er wollte sich noch ein wenig sammeln. Er war heute Morgen im Krankenhaus gewesen, die alte Bäuerin Sigl mit ihrem grünen Star in den Augen hatte er besucht, den Mechaniker Staiger, der gestern an der Galle operiert worden war. Und einem neunjährigen Mädchen hatte er die Sterbesakramente geben müssen. Sie war gestern Abend mit dem Fahrrad verunglückt, in Neufahrn, an diesem verflixten Eck am Bahnhof, wo schon so viel passiert war. Weil dort alle aufeinandertrafen, die Fußgänger aus der Unterführung, die Radfahrer vom Marktberg und die Lastwagen, die noch die alte Bundesstraße benutzten. Eine kleine Jacqueline, Jackie wurde sie genannt. Herr, sei nett zu ihr.
In der kleinen Kirche von Oberronnberg wurden schon lange keine regelmäßigen Messen mehr gehalten. Sie gehörte inzwischen zu Joseph Lichtingers Pfarrgemeinde Grisbach und wurde nur noch zu besonderen Gelegenheiten geöffnet, Taufen, Gedenkgottesdiensten, hin und wieder einer intimen Trauung. Sie lag einsam auf einem Hügel, große Maisfelder davor, dahinter der Wald. Drinnen gab es nur zehn Reihen von Holzbänken rechts und links des Mittelganges, an der Stirnseite einen schlichten Altar. An der Wand dahinter hing das Schmuckstück der Kirche: ein ziemlich großes, handgeschnitztes Kreuz aus Eichenholz, in der Gegend ein bisschen berühmt, weil der Jesus, wie man hier fand, nicht wie üblich leidend aussah, sondern vielmehr eher zornig. Der kleine Kirchturm befand sich direkt über dem Altar, und das Seil zum Läuten der Glocke war seitlich an der Wand um einen Messinghaken geschlungen.
Lichtinger setzte sich in die erste Reihe und richtete seinen Blick auf das Kreuz. Er war ein mittelgroßer Mann mit einer sportlichen Figur, die auch der schlechtgeschnittene schwarze Priesteranzug nicht ganz verbergen konnte. In seiner Jugend war er aktiver Geräteturner gewesen. Reck. Und Fußball spielte er immer noch, in der Altherren-Mannschaft von Grisbach. Das Auffälligste an ihm waren seine strohblonden Haare und seine leuchtenden blauen Augen, und hier in seiner Heimat hatte diese Auffälligkeit immer schon für Gelächter gesorgt. Joseph Lichtinger war einer von vier Brüdern, der jüngste, und alle hatten sie diese Augen und diese Haare, obwohl Vater und Mutter brünett waren und beide dunkle Augen hatten. Ein ziemlich fescher Schwede musste hier immer mal wieder durchgereist sein, witzelte man schon zu Zeiten, als die vier Brüder in Grisbach in die Grundschule gingen. Seine Brüder hatte es in die ganze Welt verschlagen. Ihn ja zunächst auch, aber dann war er zurückgekommen, im schwarzen Anzug mit weißem Kragen. Doch der Spitzname »der Schwede« war sofort wieder aufgenommen worden, Pfarrer hin oder her.
Seit zwei Jahren hatte er nichts mehr von Gabriel Tretjak gehört, und gesehen hatte er ihn zuletzt … ja, wie lange mochte das her sein? Gestern Abend hatte er angerufen, und der Klang seiner Stimme hatte Lichtinger sofort beunruhigt.
»Gibt es etwas Neues?«, hatte er ihn gefragt, »etwas Neues in … in unserer Sache?«
»Vielleicht«, hatte Tretjak geantwortet. »Möglich. Wir müssen reden.«
Er könne gleich kommen, hatte Lichtinger ihm vorgeschlagen. Aber Tretjak hatte abgelehnt. Er wollte noch zum Sterneschauen. Das wenigstens war noch genauso wie früher. Ein klarer Himmel hatte Verabredungen mit Tretjak immer gefährdet.
Oberronnberg war keine helle Kirche, die Fenster waren eher klein und die Scheiben bunt bemalt mit Motiven aus dem Neuen Testament. Sie ließen nicht viel Licht herein. Vielleicht lag es an diesem merkwürdigen Zwielicht mitten am Tag, dass Pfarrer Joseph Lichtinger, genannt der Schwede, plötzlich ganz ruhig wurde und seine Gedanken weit zurück laufen ließ in die eigene Vergangenheit. Sie waren mit einem warmen Gefühl verbunden, als erinnerte er sich
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