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Der Regler

Der Regler

Titel: Der Regler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Landorff
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entnahm einem Holzkasten eine Packung Streichhölzer und zwei dicke weiße Altarkerzen. Er stellte sie auf den Altar und zündete sie an. Zwei Kerzen für die zwei jungen Männer, die sie gewesen waren. Und es war, als würde das weiße Wachs nun die warme, gnädige Erinnerung übernehmen, als würde sie nur noch dort in den Flammen weiterleuchten. Von Lichtinger war die Wärme abgefallen. Er dachte daran, wohin die übermütigen Spiele sie schließlich geführt hatten. Und er dachte an den alten grauen Pappkoffer, der inmitten von Gerümpel auf seinem Dachboden lag, scheinbar unachtsam dort hingeworfen. In dem Koffer befand sich eine mit einer Zahlenkombination gesicherte Stahlbox. Und in der Stahlbox lagen Geldscheine, viele Geldscheine, säuberlich gebündelt. Was dort auf dem Speicher des Pfarrhauses in Grisbach lagerte, waren 50 Millionen Dollar.
     
    Der Weg zu der kleinen Kirche in Oberronnberg war nicht geteert. Noch bevor man das Motorengeräusch eines Wagens wahrnahm, hörte man schon die Reifen auf dem groben Schotter. Joseph Lichtinger ging zum Eingang der Kirche, öffnete die Tür und trat ins Freie. Er sah den anthrazitfarbenen BMW geradewegs auf sich zukommen. Die Sonne stand so, dass er Tretjaks Gesicht hinter der Scheibe nicht erkennen konnte, aber die Scheinwerfer des Autos blitzten zur Begrüßung auf.
     
    »Ich hab dich mal was gefragt«, sagte Tretjak, »lange her. Ich wollte wissen, was ich mir darunter vorstellen muss, wenn es heißt, die Physiker suchen nach der Weltformel. Erinnerst du dich?«
    Lichtinger sah ihn an und schüttelte nur müde den Kopf. Tretjak steckte in Blue Jeans, schwarzen Slippern und einem leichten schwarzen Pullover. Er saß auf der Stufe vor dem Altar am Boden, neben sich seinen aufgeklappten Laptop. Lichtinger saß ihm gegenüber auf der Holzbank in der ersten Reihe. Er hatte die Tür der Kirche von innen abgeschlossen. Tretjak hatte als Erstes die beiden Kerzen ausgeblasen. »Wenn du gestattest …«
    Man konnte nicht sagen, dass er sich groß mit Smalltalk aufgehalten hatte. Er hatte seinen Computer hochgefahren und Lichtinger zügig in all das eingeweiht, was in den letzten Tagen geschehen war. Die Nachricht im Hotel in Sri Lanka, der Mord an Kerkhoff, der rätselhafte Vorfall mit seiner Putzfrau, die Blumen-Botschaft und jetzt der Mord an Kufner. Tretjak hatte alles auf seinem Computer dokumentiert, sogar ein Bild des Rennpferds Nu Pagadi war auf dem Bildschirm erschienen. Wie früher war er sehr um Präzision bemüht, ließ kein Detail aus, fast eine Stunde saßen sie jetzt schon hier. Der Vollständigkeit halber, wie er sich ausdrückte, hatte Tretjak ihm schließlich noch von der Klientin Melanie Schwarz erzählt und von dem abstoßenden Politiker.
    Tretjak rieb sich die Stirn. »Du hast mir damals auf meine Frage geantwortet, ich solle mir ein verliebtes Paar bei einem Dinner vorstellen, Mann und Frau, ein schönes Essen mit Kerzen und Champagner, passende Musik im CD -Player, vielleicht hat er sie eingeladen und gekocht, am Ende landen die beiden jedenfalls im Schlafzimmer, auf dem Tisch die abgegessenen Teller.«
    Tretjak sah ihn wieder an. »Ja, jetzt erinnerst du dich. Du hast gesagt, ich solle mir Wissenschaftler vorstellen, die aus einer anderen Welt kommen, aus einer anderen Gegend des Universums, die nichts von uns Menschen wissen. Sie untersuchen den Abendessenstisch, weil sie nur den zur Verfügung haben. Sie vermessen alles, sie analysieren alles, jeder Stoff kommt ins Labor, die Reste der Sauce, der Lippenstift am Glas, die Schweißspuren auf der Serviette. Sie stellen Thesen auf und verwerfen sie, und sie analysieren weiter, noch genauer. Irgendwann kommen sie darauf, dass hier Lebewesen zugange waren, Lebewesen, die essen und trinken müssen, vielleicht kommen sie sogar darauf, dass diese Lebewesen eine Sprache haben, weil die Musik das verrät. Du hast mir erklärt, dass diese Wissenschaftler rasch sehr viel über die Geschehnisse an diesem Abend herausfinden. Aber eine große Erkenntnis fehlt ihnen, und erst diese Erkenntnis würde das Bild vervollständigen.« Tretjak machte eine Pause. Es war sehr still. »Erst wenn sie die Liebe entdecken, das Phänomen, das kein Stoff ist, erst dann werden sie uns Menschen – und diesen Abend – wirklich begriffen haben. Das hast du mir damals erklärt. Die Weltformel sei eine zusammenfassende Idee, die Physiker suchten nicht nach ein paar Zahlen, sondern nach der großen Idee, die unsere Welt

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