Der Regler
schon zwei richtige Professoren. Macht Spaß, du solltest mal kommen.«
Tretjak nickte und lächelte. Und wenn er sich nicht völlig verändert hatte, dachte Pfarrer Lichtinger, dann gefiel ihm der Gedanke wirklich, jedenfalls in diesem einen, kurzen Moment.
München, Ostbahnhof, 21 Uhr
Dimitri Steiner stand neben seinem Motorrad und überlegte, bestimmt schon zum hundertsten Mal, ob er sich eine Windschutzscheibe anschaffen sollte. Die Vorteile waren klar: Bei Regen blieb man dahinter leidlich trocken, und auch auf der Autobahn bei höheren Geschwindigkeiten versprach sie entspanntes Fahren. Andererseits fehlte dann an einem heißen Tag der kühlende Fahrtwind, und überhaupt war Dimitri eher ein Freund des puren Motorradfahrens. Maschinen mit Stereoanlagen, Navigationssystemen, Sitz- und Griffheizungen und schweren Verkleidungen waren nicht sein Fall, er nannte sie »Einbauküchen«. Dimitri betrachtete seine Rückspiegel. Sie hatten eine Tropfenform, und er überlegte, ob er sie gegen kreisrunde austauschen sollte, wie er sie vor kurzem im Harley-Davidson-Katalog entdeckt hatte.
Dimitri Steiner war vollkommen glücklich, wenn er sich solche Gedanken machte. Er konnte Stunden damit zubringen, sein Motorrad bis ins Detail zu inspizieren: Sollte er alle Schrauben der Maschine durch verchromte ersetzen? Einen kleinen Öldruckmesser unten am Motorblock anbringen? Die Sitzbank etwas weicher auspolstern lassen? Bei solchen Gedankenspielen war man niemandem Rechenschaft schuldig, man konnte sie jederzeit abbrechen, sie mussten zu keinem Ziel führen und vor allem: Sie hatten keinerlei Konsequenzen, weder für ihn noch für andere Menschen. Seit Dimitri Steiner nicht mehr seinem Beruf nachging, seit er quasi in den Ruhestand getreten war, waren die harmlosen Gedankenspiele sein Hobby.
Es war kurz nach neun Uhr abends. Steiner stand mit seinem Motorrad am Münchner Ostbahnhof, an der Rampe zur Verladung in den Autozug nach Hamburg. Er stand in einem Pulk anderer Fahrer, die alle einen weißen Zettel mit Tesafilm an die Tanks ihrer Maschinen geklebt hatten, auf dem zu lesen war:
Hamburg-Altona.
Dimitri und sein Motorrad fielen auf in dem Pulk. Seine Harley
Roadking
war zweifarbig lackiert, in einem antik wirkenden Cremeweiß und einem sonnigen Gelb. Dimitris Helm, der am Lenker hing, war ebenfalls weiß, und er selbst steckte in einer leuchtend roten, wuchtigen Lederjacke. Ein sonderbar viereckiger Mann, ein bisschen zu kurz geraten, mit Bauch inzwischen, aber für Ende fünfzig noch mit einem breiten, muskulösen Kreuz ausgestattet. Seine eisgrauen Haare waren zu einem Igel gestutzt, sein Gesicht war braungebrannt von der vierzehntägigen Tour durch die Alpen. Dimitri Steiner wusste genau, dass er irgendwie lustig aussah, das würde sich auch bald in dem Gesichtsausdruck dieses Kommissars widerspiegeln, der ihm angekündigt worden war.
Vier Jahre lang hatte er keine Nachrichten mehr aus seinem früheren Leben erhalten. Bis heute. Es war kein langes Telefonat gewesen, aber ein präzises, ein bisschen zu präzise für seinen Geschmack. Der Mann am anderen Ende der Leitung war offensichtlich noch jung und konnte nicht einschätzen, mit wem er es da zu tun hatte. Dimitri hätte auch ohne dessen Auflistung genau gewusst, welche Informationen er dem Kommissar preisgeben durfte – und welche nicht. Er hatte das Telefonat oben am Zirler Berg geführt, auf dem Parkplatz vor dem Rasthaus. Danach hatte er sich dort eine große Portion warmen Apfelstrudel mit Vanilleeis und Schlagsahne bestellt. Er liebte diesen Apfelstrudel, den es hier überall gab.
Das Verladen der Fahrzeuge begann, die Motorräder waren zuerst dran. Man musste auf seinen Kopf achten beim Einfahren in die Waggons, die Stahlstreben der darüberliegenden Ebene hingen tief. Dimitri kannte das, er war schon oft mit dem Autozug gefahren. Routiniert lenkte er seine Roadking an die Stelle, die ihm von den Männern in den orangenen Westen zugewiesen wurde, stellte die Alarmanlage auf Transportmodus, nahm seine schwarze Ledertasche vom Gepäckträger – und warf sie Minuten später in seinem Abteil aufs Bett. Dimitri Steiner reiste auf die luxuriöseste Art, die im Autozug möglich war, in einer Einzelkabine mit eigener Dusche und Toilette. Eine kleine Rotweinflasche stand schon neben dem Bett. Morgen früh, eine Stunde vor der Ankunft, würde ihm ein Frühstück serviert werden. Er hängte seine Lederjacke auf den Bügel, zog sein T-Shirt aus und entnahm seiner
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