Der Regler
Morgen, Herr Kommissar.«
»Mögen Sie einen Kaffee?«
»Nein, danke.«
Tretjak nahm auf einem Plastikstuhl mit zerkratzter Lehne Platz. Er saß auf einem roten Kissen. Die Vorstellung, wer hier schon alles vor ihm gesessen hatte, war ihm unangenehm. Er hätte den Kommissar berühren können, so schmal war der Tisch, der sich zwischen ihnen befand. Tretjak wusste, dass er unbedingt die erste Frage stellen musste. Die Frage: Was ist gestern passiert in meiner Wohnung? Er bastelte in seinem Kopf noch an der Formulierung. Die Frage musste den richtigen Tonfall haben.
Tretjak wusste nicht, dass Maler ihn inzwischen in einem anderen Licht sah. Mit wem immer er sich über Gabriel Tretjak unterhalten hatte, was immer er über ihn erfuhr, immer hatte es geheißen: Tretjak ist einer, der manipuliert, geschickt, perfekt. Ein Meister seines Fachs. Jetzt erst war Maler darauf gekommen, dass es gar nicht anders sein konnte, als dass Tretjak versuchte, auch ihn zu manipulieren. Wie war das am Anfang gewesen? Tretjak hatte geleugnet, den ermordeten Professor Kerkhoff gekannt zu haben, um dann zerknirscht zuzugeben, er habe nicht die Wahrheit gesagt, er habe ihn doch gekannt und zwar gut. Wurde einem das nicht in jedem Lehrgang über Polizeiverhöre verklickert, dass das Eingestehen einer kleinen Schwäche Vertrauen schafft? Und tatsächlich, es hatte funktioniert, er hatte es ihm geglaubt. Maler, dachte Maler, du wirst alt.
Dann dieser aufgeregte Anruf von der Steuerprüferin. Hatte Tretjak den organisiert? Und die Sache mit den Botschaften. Erst das merkwürdige Handy bei dem Rennpferd. Dann die Blumen mit dem Hinweis auf die blutige Bettwäsche. Jetzt das Foto mit der blutgetränkten Wohnung. Und wieder steckte der große Unbekannte dahinter. Was spielte Tretjak für ein Spiel? Er schaffte Distanz zwischen der Tat und sich, gut, das hatte Maler verstanden Aber wie waren die anderen Regeln dieses Spiels? Und wie würde das Spiel weitergehen?
Mit der unvorstellbaren Tat in Tretjaks Wohnung waren auch die Bilder in Malers Kopf wiedergekommen. Als er heute Morgen schon sehr früh in der Bäckerei eine Butterbreze gekauft hatte, war der alten Verkäuferin plötzlich das Blut aus den Augen gelaufen. Er hatte weggeschaut und wieder hin, aber das Blut war immer noch gelaufen. Erst beim Hinausgehen, als er sich in der Tür noch einmal umgedreht hatte, war die Verkäuferin wieder unversehrt. Maler war ins Präsidium gefahren, und er hatte sich vorgenommen, so schnell es ging, seine Psychologin aufzusuchen.
»Herr Kommissar«, sagte Gabriel Tretjak, »was ist in meiner Wohnung passiert? Erzählen Sie es mir bitte, sofort.«
»Aber das wissen Sie doch, Herr Tretjak«, antwortete der Kommissar.
Tretjak schwieg. Einen langen Moment. Er blickte Maler nur an. Schließlich deutete er ein Kopfschütteln an, verächtlich, wütend.
»Wir kommen auf Ihre Wohnung zurück und auf das, was dort geschehen ist, das garantiere ich Ihnen. Aber zunächst möchte ich Ihnen etwas vorspielen.« Maler zog aus der Seitentasche seines beigen Jacketts ein kleines schwarzes Aufnahmegerät und drückte auf die Play-Taste. Es war ein kurzer Ausschnitt zu hören aus der Zeugenaussage des alten Zimmermädchens aus dem Hotel in Bozen, die ihm sein Kollege geschickt hatte. »Gabriel war so ein lieber Junge«, sagte eine Frauenstimme in starkem Südtiroler Dialekt. »Gabriel hat viel aushalten müssen. Die Mutter hatte so große Schmerzen und hat so oft geschrien. Gabriel ist oft in der Ecke seines Zimmers gesessen, am Boden, eingekauert, und hat stundenlang geschwiegen. Man konnte nichts tun.« Man hörte, wie die alte Frau seufzte. »Es war keine schöne Kindheit, nein, der arme Gabriel, es war ein schlimmes Leben.« Maler drückte auf die Stopp-Taste.
In Tretjaks Gesicht zeigte sich keine Regung. »Und?«, fragte er, »was soll das? Was wollen Sie von mir hören?«
»Das Zimmermädchen hat die Leiche von Professor Kufner gefunden«, sagte Maler. »Und einen Tag später erhält sie einen Brief von einem Unbekannten, in dem sie aufgefordert wird, ihre Geschichte über Gabriel Tretjak zu erzählen. Haben Sie eine Ahnung, wer diesen Brief geschickt hat?«
»Nein, keinerlei Ahnung.«
»Haben Sie eine Ahnung, warum dieser Brief verschickt wurde? Was könnte dahinterstecken?«
»Ich habe keine Ahnung.«
Maler goss sich Kaffee aus der Thermoskanne in seine Tasse. »Vielleicht kann ich Ihnen bei der Motivsuche ein bisschen helfen. Könnte es sein, dass uns jemand
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