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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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und sich dann auf dem Brückengeländer auf der anderen Seite niederließen. Indem ich ihn beobachtete, beobachtete ich zugleich die Möwen. Alles hatte die Farben, die es normalerweise hat, nur leuchtender.
    Es wird alles gutgehen, sagte ich, betete ich innerlich. Oh, laß es gutgehen. Laß uns hinüberkommen, laß uns hinüberkommen. Nur dieses eine Mal, und ich will auch alles tun. Was ich tun zu können glaubte für den, der mir möglicherweise zuhörte, und was zugleich für ihn auch nur von geringstem Nutzen oder Interesse sein könnte, werde ich niemals wissen.
    Dann stieg Luke wieder ein, zu schnell und drehte den Zündschlüssel und fuhr rückwärts. Er hat den Hörer abgenommen, sagte er. Und dann fing er an, sehr schnell zu fahren, und danach kamen die unbefestigte Straße und der Wald, und wir sprangen aus dem Auto und fingen an zu laufen. Eine Hütte, ein Versteck, ein Boot, ich weiß nicht, was wir dachten. Er hatte gesagt, die Pässe seien narrensicher, und wir hatten so wenig Zeit gehabt, zu planen. Vielleicht hatte er einen Plan, eine Art Landkarte im Kopf. Ich für mein Teil, lief einfach nur: fort, fort.
    Ich möchte diese Geschichte nicht erzählen.
     
    Ich brauche sie auch nicht zu erzählen. Ich brauche überhaupt nichts zu erzählen, weder mir selbst noch irgendeinem anderen Menschen. Ich könnte einfach nur ganz friedlich dasitzen. Ich könnte mich zurückziehen. Es ist möglich, so tief in sich hineinzugehen, so weit hinunter und zurück, daß sie einen nie wieder herausholen könnten.
    Hirundo maleficis evoltat. Hat ihr mächtig was genützt.
    Warum kämpfen?
     
    Das wird niemals ausreichen.
     
    Liebe? sagte der Kommandant.
    Das ist besser. Das ist etwas, worüber ich Bescheid weiß. Darüber können wir reden.
    Sich verlieben, sagte ich. Sich der Liebe überlassen, das haben wir alle damals getan, auf die eine oder andere Art. Wie konnte er sich nur so lustig darüber machen? Sogar darüber spotten? Als wäre es für uns trivial gewesen, eine Harmlosigkeit, eine Laune. Es war ja im Gegenteil etwas Schweres. Es war die zentrale Sache; es war die entscheidende Möglichkeit, sich selbst zu verstehen; wenn es einem niemals passierte, gar nie, dann mußte man wohl wie ein durch Mutation entstandenes Wesen sein, ein Wesen aus dem Weltraum. Das wußte jeder.
    Sich verlieben, sich verknallen, sagten wir. Ich bin ihm verfallen. Wir waren fallende Frauen. Wir glaubten an sie, diese abwärts gerichtete Bewegung: so wunderschön, wie das Fliegen, und doch zugleich so schrecklich, so extrem, so unwahrscheinlich. Gott ist die Liebe, hieß es früher, aber wir kehrten es um, und die Liebe war – wie der Himmel – immer gleich um die Ecke. Je schwieriger es war, gerade den Mann an unserer Seite zu lieben, um so mehr glaubten wir an die Liebe, eine abstrakte und alles umfassende Liebe. Wir warteten immer auf ihre Inkarnation. Das Wort, Fleisch geworden.
    Und manchmal passierte es für eine Zeit. Diese Art Liebe kommt und geht, und es ist schwer, sich später zu erinnern, so schwer wie an Schmerz. Eines Tages sahst du den Mann an und dachtest: Ich habe dich geliebt. Und die Zeitform war Vergangenheit, und du warst erfüllt von einem Gefühl der Verwunderung, weil es so erstaunlich und fragwürdig und blöde war, was du da getan hattest. Und dann wußtest du auch, warum die Freundinnen, solange es gedauert hatte, so ausweichend gewesen waren.
    Sehr tröstlich, sich das jetzt in Erinnerung zu rufen!
    Und manchmal, auch wenn du noch verliebt warst, noch fielst, wachtest du mitten in der Nacht auf, wenn das Mondlicht durch das Fenster auf sein schlafendes Gesicht fiel und die Schatten in seinen Augenhöhlen noch dunkler und unergründlicher als am Tage waren, und dann dachtest du: Wer weiß, was er tut, wenn er allein oder mit anderen Männern zusammen ist? Wer weiß, was er sagt oder wo er wahrscheinlich hingeht? Wer kann sagen, wer er in Wirklichkeit ist? Unter seiner Täglichkeit.
    Und wahrscheinlich dachtest du bei solchen Gelegenheiten: Was, wenn er mich nicht liebt?
    Oder du erinnertest dich an Geschichten, die du gelesen hattest in der Zeitung, über Frauen – oft Frauen, aber manchmal waren es auch Männer, oder Kinder, was am schlimmsten war  –, die in Straßengräben oder Wäldern oder Kühlschränken in verlassenen Untermieterzimmern gefunden worden waren, in ihren Kleidern oder ausgezogen, sexuell mißbraucht oder nicht, und auf jeden Fall tot. Es gab Gegenden, in die du nicht gern gingst,

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