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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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dem Blickwinkel künftiger Zeiten wird diese Gattung, werden wir, unsichtbar sein. Aber die Kinder werden bestimmt darinsein – etwas zum Anschauen für die Ehefrauen, unten, während sie etwas vom Buffet essen und auf die Geburt warten.
    »Du darfst es nur einen Augenblick behalten«, sagt Serena Joy, und ihre Stimme ist leise und verschwörerisch. »Ich muß es zurückbringen, ehe sie merken, daß es fehlt.«
    Eine der Marthas muß es ihr besorgt haben. Dann gibt es also auch ein Netzwerk unter den Marthas, bei dem auch für sie etwas herausspringt. Schön zu wissen.
    Ich nehme es aus ihren Händen, drehe es um, damit ich es richtig herum ansehen kann. Ist sie das, sieht sie so aus? Mein Schatz.
    So groß und verändert. Jetzt mit einem kleinen Lächeln – nach so kurzer Zeit – und in ihrem weißen Kleidchen, wie zur Erstkommunion früher.
    Die Zeit hat nicht stillgestanden. Sie ist über mich hinweggespült, hat mich fortgespült, als wäre ich nichts weiter als eine Frau aus Sand, von einem sorglosen Kind zu dicht am Wasser gebaut. Ich bin für sie ausgelöscht. Ich bin jetzt nur noch ein Schatten, weit hinter der glitschig-glänzenden Oberfläche dieses Fotos. Der Schatten eines Schattens, so wie tote Mütter Schatten werden. Man sieht es in ihren Augen: Ich bin nicht da.
    Aber es gibt sie, in ihrem weißen Kleid. Sie wächst und lebt. Ist das nicht eine gute Sache? Ein Segen?
    Und doch kann ich es nicht ertragen, so ausgetilgt worden zu sein. Ach, hätte sie mir lieber nichts gebracht!
     
    Ich sitze an dem kleinen Tisch und esse mit einer Gabel Maisbrei. Ich habe eine Gabel und einen Löffel, aber niemals ein Messer. Wenn es Fleisch gibt, schneiden sie es mir im voraus, als fehlten mir die manuellen Fähigkeiten oder die Zähne. Dabei besitze ich beides. Deshalb wird mir kein Messer zugestanden.
     

Kapitel sechsunddreißig
    Ich klopfe an seine Tür, höre seine Stimme, setze die richtige Miene auf, gehe hinein. Er steht am Kamin; in der Hand hält er ein fast leeres Glas. Normalerweise wartet er mit den harten Sachen, bis ich da bin, aber ich weiß, daß sie zum Abendessen Wein trinken. Sein Gesicht ist leicht gerötet. Ich versuche abzuschätzen, wie viele Gläser er schon getrunken hat.
    »Sei gegrüßt«, sagt er. »Wie geht's der schönen Kleinen heute abend?«
    Einige – ich sehe es an der Umständlichkeit, mit der er sein Lächeln aufsetzt und zu mir herüberschickt. Er befindet sich in der ritterlichen Phase.
    »Mir geht's gut«, sage ich.
    »Bereit für eine kleine Aufregung?«
    »Wie bitte?« frage ich. Hinter dieser Nummer spüre ich Verlegenheit, die Unsicherheit, wie weit er bei mir gehen kann, und in welche Richtung.
    »Heute abend habe ich eine kleine Überraschung für dich«, sagt er. Er lacht; es ist mehr ein Kichern. Mir fällt auf, daß heute abend alles klein ist. Er möchte alles verniedlichen, mich eingeschlossen. »Etwas, was dir gefallen wird.«
    »Und was?« frage ich. »Mensch ärgere dich nicht?« Ich kann mir solche Freiheiten nehmen; er scheint Spaß daran zu haben, besonders nach ein paar Drinks. Frivol mag er mich lieber.
    »Etwas besseres«, sagt er und versucht, mich auf die Folter zu spannen.
    »Ich kann's kaum erwarten.«
    »Gut«, sagt er. Und er geht zu seinem Schreibtisch, hantiert an einer Schublade herum. Dann kommt er auf mich zu, die eine Hand hinter dem Rücken.
    »Rate«, sagt er.
    »Tierreich, Pflanzenreich oder Mineralreich?« frage ich.
    »Oh, Tierreich«, sagt er mit gespieltem Ernst. »Eindeutig Tierreich, würde ich sagen.« Er nimmt die Hand hinter dem Rücken hervor. Er hält eine Handvoll Federn, wie es scheint fliederfarben und rosa. Jetzt schüttelt er es auseinander. Es ist offensichtlich ein Kleidungsstück, und zwar für eine Frau: da sind die Schalen für die Brüste, mit lila Pailletten bedeckt. Die Pailletten sind winzige Sterne. Die Federn säumen die Beinöffnungen und den Ausschnitt. So unrecht hatte ich nicht mit dem Strumpfgürtel.
    Wo er das wohl gefunden hat. Alle solche Kleidung sollte eigentlich vernichtet werden. Ich erinnere mich daran, das in den Fernsehnachrichten gesehen zu haben, in Clips, die in einer Stadt nach der anderen gefilmt worden waren. In New York hieß es Manhattan-Säuberungsaktion. Es gab große Feuer auf dem Times Square, singende Menschenmengen tanzten um sie herum, Frauen warfen dankbar die Arme in die Luft, wenn sie fühlten, daß die Kameras auf sie gerichtet waren, zackige junge Männer mit steinernen

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