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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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unter der Ölpest, der sichere Tod für Wasservögel und ungeborene Babys. Vielleicht würde ein Geier krepieren, wenn er von dir fräße. Vielleicht strahlst du schon in der Dunkelheit wie eine altmodische Uhr. Totenuhr. Das ist eine Käferart, sie vergraben Aas.
    Manchmal kann ich nicht an mich, an meinen Körper denken, ohne das Skelett darunter zu sehen: wie ich für ein Elektron aussehen muß. Eine Wiege des Lebens, aus Knochen gemacht, und darin Gefahren, verzerrte Proteine, schlechte Kristalle, gezackt wie Glas. Die Frauen nahmen Medikamente ein, Tabletten, die Männer besprühten Bäume, Kühe fraßen das Gras, und die ganze konzentrierte Pisse floß in die Flüsse. Ganz zu schweigen von den Atomkraftwerken, die bei den Erdbeben entlang der San Andreas Verwerfung explodierten – verwerflich, doch niemandes Schuld –, oder von der durch Mutation entstandenen Spielart der Syphilis, die kein Schimmelpilz mehr angreifen konnte. Manche machten es selbst, ließen sich mit Cargut abbinden oder mit Chemikalien verätzen. Wie konnten sie nur, sagte Tante Lydia, oh, wie konnten sie so etwas tun? Schamlos wie Jesebel! Verachten Gottes Gaben! Sie rang die Hände.
    Ihr geht ein Risiko ein, sagte Tante Lydia, aber ihr seid die Stoßtrupps, ihr werdet vorausmarschieren, in gefährliches Gebiet. Je größer das Risiko, um so größer der Ruhm. Sie preßte die Hände aneinander, strahlend angesichts unseres geheuchelten Muts. Wir senkten die Augen, blickten auf unsere Tische. Das alles durchzumachen und dann für den Reißwolf gebären: das war kein angenehmer Gedanke. Wir wußten nicht genau, was mit den Babys geschehen würde, die nicht durchkamen, die zu Unbabys erklärt wurden. Aber wir wußten, daß sie fortgeschafft wurden, irgendwohin, schnell, fort.
     
    Es gab nicht nur eine einzige Ursache, sagt Tante Lydia. Sie steht vorn im Raum, in ihrem Khakikleid, einen Zeigestock in der Hand. Vor der Tafel heruntergezogen, dort, wo früher eine Landkarte gehangen hätte, ist ein Schaubild, das die Geburtenrate pro tausend Einwohner zeigt, über viele Jahre hinweg: ein schlüpfriger Abhang, an der Null-Linie des Gleichgewichts zwischen Sterbe- und Geburtenziffern vorbei, und immer noch weiter abwärts.
    Natürlich glaubten einige Frauen, es gebe keine Zukunft, sie meinten, die Welt werde explodieren. Das war die Entschuldigung, die sie vorschoben, sagt Tante Lydia. Sie sagten, es habe keinen Sinn mehr, sich fortzupflanzen. Tante Lydias Nüstern werden eng: welche Verruchtheit. Es waren bequeme Frauen, sagt sie. Es waren Schlampen.
    In meiner Tischplatte sind Initialen in das Holz eingeschnitten, und Daten. Die Initialen stehen manchmal in Zweiergruppen, verbunden durch das Wort liebt. J.H. liebt B.P. 1954. O.R. liebt L.T. Sie erinnern mich an die Inschriften, von denen ich gelesen habe, die in die Steinwände von Höhlen eingeritzt oder mit einer Mischung aus Ruß und Tierfett gemalt worden sind. Sie kommen mir unglaublich alt vor. Die Tischplatte ist aus hellem Holz, sie ist schräg, und an der rechten Seite befindet sich eine Armlehne, auf die man sich stützen konnte, wenn man schrieb,   auf  Papier,   mit  einem   Stift.   In  dem  Pult  konnte man Gegenstände aufbewahren: Bücher, Hefte. Solche Gewohnheiten früherer Zeiten kommen mir jetzt verschwenderisch vor, fast dekadent, unmoralisch wie die Orgien barbarischer Regimes. M. liebt G., 1972. Diese Einkerbung, mit einem Bleistift vorgenommen, der viele Male in den abgenutzten Lack des Pults hineingegraben wurde, hat etwas von dem Pathos aller vergangenen Kulturen. Sie ist wie ein Handabdruck auf Stein. Wer immer sie gemacht hat, er hat einmal gelebt.
    Es gibt keine Daten mehr nach der Mitte der achtziger Jahre. Dies muß eine der Schulen gewesen sein, die damals wegen Mangels an Kindern geschlossen wurden.
    Sie haben Fehler gemacht, sagt Tante Lydia. Wir haben nicht vor, diese Fehler zu wiederholen. Ihre Stimme ist fromm, herablassend, die Stimme jener, deren Pflicht es ist, uns zu unserem Besten Unerfreuliches zu sagen. Ich könnte sie erwürgen. Ich schiebe den Gedanken beiseite, sobald er in mir aufkommt.
    Nur das wird geschätzt, sagt sie, was selten ist und schwer zu bekommen. Wir möchten, daß ihr geschätzt werdet, Mädels. Sie macht reichlich viele Pausen, die sie im Mund auskostet. Denkt euch, ihr seid Perlen. Wir, die wir mit niedergeschlagenen Augen in unseren Reihen sitzen, regen ihren moralischen Speichelfluß an. Wir sind ihr ausgeliefert;

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