Der Report der Magd
meinem Wandschrank. Hirundo maleficis evoltat. Hier, in dieser Umgebung, ist es weder Gebet noch Befehl, sondern ein trauriges Graffito, einmal hingekritzelt und schon aufgegeben. Der Stift zwischen meinen Fingern hat etwas Sinnliches, ist fast lebendig, ich spüre seine Macht, die Macht der Worte, die er enthält. Penisneid pflegte Tante Lydia zu sagen, eine weitere Zentrum-Parole zitierend, die uns vor solchen Gegenständen warnen sollte. Und sie hatten recht, es ist Neid. Allein schon ihn zu halten, bedeutet Neid. Ich beneide den Kommandanten um seinen Stift. Noch etwas, was ich gern stehlen würde.
Der Kommandant nimmt mir das Blatt mit dem Knopflächeln aus der Hand und schaut es an. Dann fängt er an zu lachen, und – wird er nicht rot? »Das ist kein Latein«, sagt er. »Das ist nur ein Witz.«
»Ein Witz?« frage ich. Und jetzt bin ich verwirrt. Es kann nicht nur ein Witz sein. Habe ich dieses Risiko auf mich genommen und nach der Erkenntnis gegriffen, um nicht mehr als einen Witz zu erlangen? »Was für ein Witz?«
»Du weißt doch, wie Schuljungen sind«, sagt er. Sein Lachen klingt wehmütig, es ist, wie mir jetzt deutlich wird, ein Lachen, das Nachsicht gegenüber seinem früheren Ich ausdrückt. Er steht auf, geht zu dem Bücherregal hinüber und entnimmt dem Schatz ein Buch, nicht jedoch das Wörterbuch. Es ist ein altes Buch, wie ein Schulbuch sieht es aus, mit Eselsohren und Tintenflecken. Bevor er es mir zeigt, blättert er es durch, versonnen, in Erinnerungen versunken. Dann sagt er: »Hier«, und legt es offen vor mich auf den Schreibtisch.
Als erstes sehe ich ein Bild: die Venus von Milo auf einem Schwarzweißfoto, plump verziert mit Schnurrbart, schwarzem Büstenhalter und Haaren in den Achselhöhlen. Auf der Seite daneben das Kolosseum in Rom, mit einer Bildunterschrift in Englisch, und darunter eine Konjugation: sum es est, sumus estis sunt. »Da«, sagt er, und deutet mit dem Finger darauf. Und ich sehe es, am Rand, mit derselben Tinte gekritzelt wie das Haar an der Venus. Hirundo maleficis evoltat.
»Es ist ein bißchen schwer zu erklären, warum das komisch ist, wenn du kein Latein kannst«, sagt er. »Wir haben alle möglichen Sprüche dieser Art geschrieben. Ich weiß nicht, woher wir sie hatten, vielleicht von älteren Jungen.« Mich und sich selbst vergessend blättert er weiter. »Schau, hier«, sagt er. Das Bild heißt: Die Sabinerinnen. Und an den Rand ist gekritzelt: Pimmel, pisse, pißt, primus, pisset, pint. »Da gab es noch einen«, sagt er: »Mieze, Muschi, Mö-…« Er hält inne, kehrt verlegen in die Gegenwart zurück. Wieder lächelt er; diesmal könnte man es ein Grinsen nennen. Ich stelle mir Sommersprossen an ihm vor, eine Haartolle über der Stirn. In diesem Augenblick mag ich ihn fast.
»Aber was hat es bedeutet?« frage ich.
»Was?« fragt er. »Ach so, es bedeutet: ›Die Schwalbe entflieht den Bösewichtern.‹ Ich glaube, wir kamen uns damals mächtig schlau vor.«
Ich zwinge mich zu einem Lächeln, aber jetzt wird mir alles klar.
Ich verstehe, warum sie es geschrieben hat, an die Schrankwand, aber mir wird auch klar, daß sie es gelernt haben muß, hier, in diesem Zimmer. Wo sonst? Sie ist nie ein Schuljunge gewesen. Von ihm, in einer früheren Periode der Jugenderinnerungen, der ausgetauschten Vertraulichkeiten. Ich bin also nicht die erste. Nicht die erste, die sein Schweigen betreten, kindische Buchstabenspiele mit ihm gespielt hat.
»Was ist aus ihr geworden?« frage ich.
Ihm entgeht keine Regung. »Hast du sie etwa gekannt?«
»Ein bißchen«, sage ich.
»Sie hat sich aufgehängt«, sagt er, nachdenklich, nicht traurig. »Deshalb haben wir die Lüsterhalterung entfernen lassen. In deinem Zimmer.« Er hält inne. »Serena ist dahintergekommen«, sagt er, als sei das eine Erklärung. Und es ist eine.
Wenn dein Hund stirbt, schaff dir einen neuen an.
»Womit?« frage ich.
Er will mich nicht auf irgendwelche Ideen bringen. »Spielt das eine Rolle?« fragt er.
Ein in Streifen gerissenes Bettuch, nehme ich an. Ich habe die Möglichkeiten schon erwogen.
»Ich nehme an, Cora hat sie gefunden«, sage ich. Deshalb hat sie so geschrien.
»Ja«, sagt er. »Die Arme.« Er meint Cora.
»Vielleicht sollte ich nicht mehr hierherkommen«, sage ich.
»Ich dachte, es macht dir Spaß«, sagt er leichthin, beobachtet mich aber mit aufmerksamen, glänzenden Augen. Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich glauben, es sei Angst. »Ich wünschte, es würde dir
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