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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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die Augen nicht vor mir ab. Dieses Zuschauen hat seltsamerweise etwas von einem sexuellen Akt an sich, und ich komme mir dabei wie ausgezogen vor. Ich wünschte, er würde mir den Rücken kehren, im Zimmer auf und ab gehen, selbst etwas lesen, dann könnte ich mich vielleicht mehr entspannen, mir mehr Zeit lassen. So dagegen hat mein unerlaubtes Lesen immer etwas von einer Vorführung.
    »Ich glaube, ich würde lieber einfach nur reden«, sage ich und bin selber überrascht, während ich mich das sagen höre.
    Er lächelt wieder. Er scheint nicht überrascht. Möglicherweise hat er eben dies oder dergleichen erwartet. »Ach ja?« sagt er. »Worüber möchtest du reden?«
    Ich zögere. »Egal, worüber, nehme ich an. Na ja, über dich, zum Beispiel.«
    »Über mich?« Er lächelt immer noch. »Oh, über mich gibt es nicht viel zu sagen. Ich bin nur ein ganz normaler Typ.«
    Diese falsche Aussage und dazu noch die falsche Sprache –»Typ«? – verschlägt mir die Sprache. Ganz normale Typen werden nicht Kommandanten. »Es muß doch etwas geben, was du besonders gut kannst«, sage ich. Ich weiß, daß ich ihm damit ein Stichwort gebe, ihm einen Ball zuspiele, ihn aus der Reserve locke, und ich hasse mich dafür, daß ich es tue, es ist wahrhaft ekelerregend. Aber wir sind dabei, miteinander zu fechten. Entweder redet er, oder ich tue es. Ich weiß es, ich spüre, wie der Redefluß sich in mir staut, es ist schon so lange her, seit ich mit jemandem wirklich gesprochen habe. Der kurze geflüsterte Wortwechsel mit Desglen heute auf unserem Spaziergang zählt kaum. Aber er war ein Anreiz, ein Vorspiel. Nachdem ich gespürt habe, wieviel Erleichterung mir dieses bißchen Sprechen brachte, will ich mehr.
    Und wenn ich mit ihm spreche, werde ich einen Fehler machen, irgend etwas verraten. Ich spüre schon, wie er naht, der Verrat an mir selbst. Ich möchte nicht, daß er zuviel erfährt.
    »Oh, anfangs war ich in der Marktforschung tätig«, sagt er schüchtern. »Später habe ich dann sozusagen meinen Tätigkeitsbereich ausgeweitet.«
    Mir wird plötzlich etwas bewußt: Ich weiß zwar, daß er Kommandant  ist,   aber  nicht,   wovon.   Was   kontrolliert  er, welches ist sein »Gebiet«, wie man früher sagte? Die Kommandanten haben keine spezifischen Titel.
    »Aha«, sage ich und versuche, daß es so klingt, als hätte ich verstanden.
    »Man könnte sagen, daß ich so etwas wie ein Wissenschaftler bin«, sagt er. »In Grenzen, versteht sich.«
    Danach sagt er eine Weile nichts, und auch ich sage nichts. Wir warten, um zu sehen, wer das Schweigen länger aushält.
    Ich bin diejenige, die es zuerst bricht. »Aber vielleicht kannst du mir etwas erklären, worüber ich mir Gedanken gemacht habe.«
    Er zeigt Interesse. »Was könnte das sein?«
    Ich steuere auf die Gefahr zu, aber ich kann jetzt nicht mehr zurück. »Es ist ein Satz, an den ich mich von irgendwoher erinnere.« Lieber nicht sagen, woher. »Ich glaube, es ist Latein, und ich dachte, vielleicht…« Ich weiß, daß er ein lateinisches Wörterbuch hat. Er hat alle möglichen Wörterbücher im obersten Regalfach links vom Kamin.
    »Sag es mir«, sagt er. Distanziert, aber wacher, oder bilde ich mir das nur ein?
    »Hirundo maleficis evoltat«, sage ich.
    »Was?« fragt er.
    Ich habe es sicher nicht richtig ausgesprochen. Ich weiß nicht, wie man es ausspricht. »Ich könnte es buchstabieren«, sage ich. »Oder aufschreiben.«
    Er zögert bei dieser ungewöhnlichen Idee. Möglicherweise erinnert er sich nicht daran, daß ich schreiben kann. Ich habe in diesem Zimmer noch nie einen Kugelschreiber oder Bleistift in der Hand gehabt, nicht einmal um die Punkte zu addieren. Frauen können nicht addieren, hat er einmal gesagt, im Scherz. Als ich ihn fragte, wie er das meinte, sagte er: Für sie ist eins und eins und eins und eins nicht vier.
    Und was ist es für sie? fragte ich und erwartete, fünf oder drei.
    Einfach nur eins und eins und eins und eins, sagte er.
    Aber jetzt sagt er: »Na schön«, und wirft mir seinen Kugelschreiber fast trotzig über den Tisch zu, als nähme er eine Herausforderung an. Ich sehe mich suchend nach etwas um, worauf ich schreiben kann, und er gibt mir den Scrabble-Block, einen Notizblock für den Schreibtisch mit einem eingedruckten kleinen lachenden Knopfgesicht oben auf der Seite. Diese Dinger werden also immer noch hergestellt.
    Ich schreibe den Satz sorgfältig in Druckbuchstaben auf, schreibe ihn ab aus meinem Kopf, aus

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