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Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Titel: Der Richter und sein Henker - Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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legte:
    »Kläri Glauber: Der Tod, das Ziel und der Zweck unseres Lebenswandels. Ein praktischer
    Leitfaden.«
    Ob sie nun die Ärztin holen solle, fragte sie triumphierend.
    »Nein«, antwortete der Kommissär, immer noch das Ziel und den Zweck unseres Lebenswandels in den Händen. »Die habe ich nicht nötig. Aber den Vorhang möchte ich auf der Seite. Und das Fenster offen.«
    Der Vorhang wurde zur Seite geschoben, das Licht erlosch. Auch die Nachttischlampe drehte der Alte aus.
    Die massige Gestalt der Schwester Kläri verschwand im erleuchteten Rechteck der Türe, doch bevor sich diese schloß, fragte er:
    »Schwester! Sie geben auf alles unverblümt genug Antwort; um mir auch hier die Wahrheit zu sagen: Gibt es in diesem Haus einen Zwerg?«
    261
    »Natürlich«, kam es brutal vom Rechteck her.
    »Sie haben ihn ja gesehen.«
    Dann schloß sich die Türe.
    »Unsinn«, dachte er. »Ich werde die Abteilung drei verlassen. Das ist auch gar keine Kunst. Ich werde mit Hungertobel telefonieren. Ich bin zu krank, um irgend etwas Vernünftiges gegen Errt-menberger zu unternehmen. Morgen kehre ich ins Salem zurück.«
    Er fürchtete sich und schämte sich nicht, es zu gestehen.
    Draußen war die Nacht und um ihn die Finsternis des Zimmers. Der Alte lag auf seinem Bett, fast ohne zu atmen.
    »Einmal müssen die Glocken zu hören sein«, dachte er, »die Glocken Zürichs, wenn sie das neue Jahr einläuten.«
    Von irgendwoher schlug es zwölf.
    Der Alte wartete.
    Von neuem schlug es von irgendwoher, dann noch einmal, immer zwölf unbarmherzige Schläge.
    Schlag um Schlag, wie Hammerschläge an ein Tor von Erz.
    Kein Geläute, kein wenn auch noch so ferner Aufschrei irgendeiner versammelten, glücklichen Menschenmenge.
    Das neue Jahr kam schweigend.
    »Die Welt ist tot«, dachte der Kommissär und immer wieder: »Die Welt ist tot.«
    262
    Auf seiner Stirne spürte er kalten Schweiß, Tropfen, die langsam seine Schläfen entlangglitten.
    Die Augen hatte er weit aufgerissen. Er lag unbeweglich. Demütig.
    Noch einmal hörte er von ferne zwölf Schläge, über einer öden Stadt verhallend. Dann war es ihm, als versinke er in irgendein uferloses Meer, in irgendeine Finsternis.
    Im Morgengrauen wachte er auf, in der Dämme-rung des neuen Tags.
    »Sie haben das neue Jahr nicht eingeläutet«, dachte er immer wieder.
    Das Zimmer war bedrohlicher denn je.
    Lange starrte er in die beginnende Helle, in diese sich lichtenden, grüngrauen Schatten, bis er begriff:
    Das Fenster war vergittert.

    263
    Doktor Marlok
    »Da wäre er nun aufgewacht«, sagte eine Stimme von der Türe her zum Kommissär, der nach dem vergitterten Fenster starrte. Ins Zimmer, das sich immer mehr mit einem nebligen, schemenhaften Morgen füllte, trat im weißen Ärztekittel ein altes Weib, wie es schien, mit welken, verschwollenen Zügen, in welchen Bärlach nur mühsam und mit Entsetzen das Antlitz der Ärztin erkannte, die er mit Emmenberger im Operationssaal gesehen hatte.
    Er starrte sie, müde und von Ekel geschüttelt, an.
    Ohne sich um den Kommissär zu kümmern, streifte sie den Rock zurück und stieß sich eine Spritze durch den Strumpf in den Oberschenkel; dann, nachdem sie die Injektion gemacht hatte, richtete sie sich auf, zog einen Handspiegel hervor und schminkte sich. Gebannt verfolgte der Alte den Vorgang. Er schien für das Weib nicht mehr vorhanden zu sein. Ihre Züge verloren das Gemeine und bekamen wieder die Frische und die Klarheit, die er an ihr bemerkt hatte, so daß, unbeweglich an den Türpfosten gelehnt, nun die 264
    Frau im Zimmer stand, deren Schönheit ihm bei seiner Ankunft aufgefallen war.
    »Ich verstehe«, sagte der Alte, langsam aus seiner Erstarrung erwachend, aber noch immer erschöpft und verwirrt. »Morphium.«
    »Gewiß«, sagte sie. »Das braucht man in dieser Welt — Kommissär Bärlach.«
    Der Alte starrte in den Morgen hinaus, der sich verfinsterte; denn nun floß draußen der Regen nieder, hinein in den Schnee, der von der Nacht her noch liegen mußte, und dann sagte er leise, wie beiläufig:
    »Sie wissen, wer ichbin.«
    Dann starrte er wieder hinaus.
    »Wir wissen, wer Sie sind«, stellte nun auch die Ärztin fest, immer noch an die Türe gelehnt, beide Hände in den Taschen ihres Berufsmantels
    vergraben.
    Wie man darauf gekommen sei, fragte er und war eigentlich gar nicht neugierig.
    Sie warf ihm eine Zeitung aufs Bett.
    Es war Der Bund.
    Auf der ersten Seite war sein Bild; wie der Alte gleich feststellte, eine

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