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Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Titel: Der Richter und sein Henker - Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Aufnahme vom Frühling her, da hatte er noch die Ormond-Brasil geraucht, und darunter stand: Der Kommissär der Stadtpolizei Bern, Hans Bärlach, in den Ruhestand getreten.
    »Natürlich«, brummte der Kommissär.
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    Dann sah er, als er nun verblüfft und verärgert einen zweiten Blick auf die Zeitung warf, das Datum der Ausgabe.
    Es war das erstemal, daß er die Haltung verlor.
    »Das Datum«, schrie er heiser. »Das Datum, Ärztin! Das Datum der Zeitung!«
    »Nun?« fragte sie, ohne auch nur das Gesicht zu verziehen.
    »Es ist der fünfte Januar«, keuchte der Kommis -
    sär verzweifelt, der nun das Ausbleiben der Neu-jahrsglocken, die ganze fürchterliche vergangene Nacht, begriff.
    Ob er ein anderes Datum erwartet habe, fragte sie spöttisch und sichtlich auch neugierig, indem sie die Brauen ein wenig hob.
    Er schrie: »Was haben Sie mit mir gemacht?«
    und versuchte, sich aufzurichten, doch fiel er kraft-los ins Bett zurück.
    Noch einige Male ruderten die Arme in der Luft herum, dann lag er wieder unbeweglich.
    Die Ärztin zog ein Etui hervor, dem sie eine Zigarette entnahm.
    Sie schien von allem unberührt zu sein.
    »Ich wünsche nicht, daß man in meinem Zimmer raucht«, sagte Bärlach leise, aber doch sehr bestimmt.
    »Das Fenster ist vergittert«, antwortete die Ärztin und deutete mit dem Kopf dorthin, wo 266
    hinter den Eisenstäben unaufhörlich der Regen herniederrann.
    »Ich glaube nicht, daß Sie etwas zu bestimmen, haben.«
    Dann wandte sie sich dem Alten zu und stand nun vor seinem Bett, die Hände in den Taschen des Mantels.
    »Insulin«, sagte sie, indem sie auf ihn nieder-blickte. »Der Chef hat eine Insulinkur mit Ihnen gemacht. Seine Spezialität.« Sie lachte. »Wollen Sie den Mann denn verhaften?«
    »Emmenberger hat einen deutschen Arzt
    namens Nehle ermordet und ohne Narkose
    operiert«, sagte Bärlach kaltblütig. Er fühlte, daß er die Ärztin gewinnen mußte.
    Er war entschlossen, alles zu wagen.
    »Er hat noch viel mehr gemacht, unser Doktor«, entgegnete die Ärztin.
    »Sie wissen es!«
    »Gewiß.«
    »Sie geben zu, daß Emmenberger unter dem
    Namen Nehle Lagerarzt in Stutthof war?« fragte er fiebrig.
    »Natürlich.«
    »Auch den Mord an Nehle geben Sie zu?«
    »Warum nicht?«
    Bärlach, der so mit einem Schlag seinen
    Verdacht bestätigt fand, diesen ungeheuerlichen, abstrusen Verdacht, aus Hungertobels Erbleichen 267
    und aus einer alten Fotografie herausgelesen, den er diese endlosen Tage wie eine Riesenlast mit sich geschleppt hatte, blickte erschöpft nach dem Fenster. Das Gitter entlang rollten einzelne, silbern leuchtende Wasser tropfen. Er hatte sich nach diesem Augenblick des Wissens gesehnt, als nach einem Augenblick der Ruhe.
    »Wenn Sie alles wissen«, sagte er, »sind Sie mitschuldig.«
    Seine Stimme klang auf einmal müde und
    traurig.
    Die Ärztin blickte mit einem so merkwürdigen Blick auf ihn nieder, daß ihn ihr Schweigen be-unruhigte. Sie streifte ihren rechten Ärmel hoch. In den Unterarm, tief ins Fleisch, war eine Ziffer gebrannt, wie bei einem Stück Vieh. »Muß ich Ihnen noch den Rücken zeigen?« fragte sie,
    »Sie waren im Konzentrationslager?« rief der Kommissär bestürzt aus und starrte nach ihr, mühsam halb aufgerichtet, indem er sich auf den rechten Arm stützte.
    »Edith Marlok, Häftling 4466 im Vernich-
    tungslager Stutthof bei Danzig.«
    Ihre Stimme war kalt und erstorben.
    Der Alte fiel in die Kissen zurück. Er verfluchte seine Krankheit, seine Schwäche, seine Hilflosig-keit.
    »Ich war Kommunistin«, sagte sie und schob den Ärmel hinunter.
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    »Und wie konnten Sie dann das Lager über-
    stehen?«
    »Das ist einfach«, antwortete sie und hielt seinen Blick so gleichgültig aus, als könne sie nichts mehr bewegen, kein menschliches Gefühl und kein noch so entsetzliches Schicksal:
    »Ich bin Emmenbergers Geliebte geworden.«
    »Das ist doch unmöglich«, entfuhr es dem
    Kommissär.
    Sie sah ihn verwundert an.
    »Ein Folterknecht erbarmte sich einer dahin-siechenden Hündin«, sagte sie endlich. »Die Chance, einen SS-Arzt zu ihrem Geliebten zu bekommen, haben nur wenige von uns Frauen im Lager Stutthof gehabt. Jeder Weg, sich zu retten, ist gut. Sie versuchen ja nun auch alles, vom Sonnenstein loszukommen.«
    Fiebernd und zitternd versuchte er sich zum drittenmal aufzurichten.
    »Sind Sie immer noch seine Geliebte?«
    »Natürlich. Warum nicht?«
    Das könne sie doch nicht. Emmenberger sei ein Ungeheuer, schrie Bärlach. »Sie waren

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