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Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Titel: Der Richter und sein Henker - Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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auf, hinter dem sich das Fenster verbergen mußte; er war mit seltsamen Pflanzen und Tieren bestickt, die im 257
    Lichte aufleuchteten. »Man sieht, daß ich auf der Jagd bin«, sagte er sich.
    Er legte sich ins Kissen zurück und überdachte das nun Erreichte. Es war wenig genug. Er hatte seinen Plan durchgeführt. Nun hieß es, das Be -
    gonnene weiterzuverfolgen, um die Fäden des Netzes dichter zu weben. Es war notwendig, zu handeln, doch wie er handeln mußte und wo er ansetzen konnte, wußte er nicht. Er drückte einen Knopf nieder, der sich auf dem Tischchen befand.
    Schwester Kläri erschien.
    »Sieh da, unsere Krankenschwester aus Biglen an der Eisenbahnlinie Burgdorf-Thun«, begrüßte sie der Alte. »Da sieht man, wie ich die Schweiz kenne als alter Auslandsschweizer.«
    »So, Herr Kramer, was ist denn? Endlich erwacht?« sagte sie, die runden Arme in die Hüften gestemmt.
    Der Alte schaute von neuem auf seine Arm-
    banduhr. »Es ist erst halb elf.«
    »Haben Sie Hunger?« fragte sie.
    »Nein«, antwortete der Kommissär, der sich schwach fühlte.
    »Sehen Sie, nicht einmal Hunger haben der Herr. Ich werde die Doktorin rufen, die haben Sie ja kennengelernt. Die wird Ihnen noch eine Spritze geben«, entgegnete die Schwester.
    »Unsinn«, brummte der Alte. »Ich habe noch keine Spritze bekommen. Drehen Sie lieber die 258
    Deckenlampe an. Ich will mir einmal dieses Zimmer besehen. Man mu ß doch wissen, wo man liegt.« Er war recht ärgerlich.
    Ein weißes, doch nicht blendendes Licht strahlte auf, von dem man nicht recht wußte, woher es kam. Der Raum trat in der neuen Beleuchtung noch deutlicher hervor. Über dem Alten war die Decke ein einziger Spiegel, wie er erst jetzt zu seinem Mißvergnügen bemerkte; denn sich selbst so ständig über sich zu haben, mußte nicht recht geheuer sein. »Überall diese Spiegeldecke«, dachte er, »es ist zum Verrücktwerden«, im geheimen über das Skelett entsetzt, das ihm von oben ent-gegenstarrte, wenn er hinsah, und das er selbst war.
    »Der Spiegel lügt«, dachte er, »es gibt solche Spiegel, die alles verzerren, ich kann nicht so ab-gemagert sein.« Er sah sich weiter im Zimmer um, vergaß die unbeweglich wartende Schwester. Links von ihm war die Wand aus Glas, das auf einer grauen Materie lag, in die nackte Gestalten, tanzende Frauen und Männer, geritzt waren, rein linear und doch plastisch; und von der rechten grüngrauen Wand hing wie ein Flügel zwischen Tür und Vorhang Rembrandts Anatomie in den Raum hinein, scheinbar sinnlos und doch berechnet, eine Zusammenstellung, die dem Raum etwas Frivoles gab, um so mehr, als über der Türe, in der die Schwester stand, ein schwarzes, rohes Holzkreuz hing.
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    »Nun, Schwester«, sagte er, noch immer verwundert, daß sich das Zimmer durch die Beleuchtung so verändert hatte; denn ihm war vorher nur der Vorhang aufgefallen, und von den tanzenden Frauen und Männern, von der Anatomie und vom Kreuz hatte er nichts gesehen; doch nun auch von Besorgnis erfüllt, die ihm diese unbekannte Welt einflößte: »Nun, Schwester, das ist ein
    merkwürdiges Zimmer für ein Spital, das doch die Leute gesund machen soll und nicht verrückt.«
    »Wir sind auf dem Sonnenstein«, antwortete die Schwester Kläri und faltete die Hände über dem Bauch. »Wir gehen auf alle Wünsche ein«,
    schwatzte sie, leuchtend vor Biederkeit, »auf die frömmsten und auf die ändern. Ehrenwort, wenn Ihnen die Anatomie nicht paßt, bitte. Sie können die Geburt der Venus von Botticelli haben oder einen Picasso.«
    »Dann schon lieber Ritter, Tod und Teufel«, sagte der Kommissär.
    Schwester Kläri zog ein Notizbuch hervor. »Ritter, Tod und Teufel«, notierte sie. »Das wird morgen montiert. Ein schönes Bild für ein Sterbe-zimmer. Ich gratuliere. Der Herr haben einen guten Geschmack.«
    »Ich denke«, antwortete der Alte, über die Grobheit dieser Schwester Kläri erstaunt, »ich denke, soweit ist es mit mir wohl noch nicht.«
    Schwester Kläri wackelte bedächtig mit ihrem 260
    roten fleischigen Kopf. »Doch«, sagte sie energisch. »Hier wird nur gestorben.
    Ausschließlich. Ich habe noch niemanden gesehen, der die Abteilung drei verlassen hätte. Und Sie sind auf der Abteilung drei, da läßt sich nichts dagegen machen. Jeder muß einmal sterben. Lesen Sie, was ich darüber geschrieben habe. Es ist in der Druckerei Liechti in Walkringen erschienen.«
    Die Schwester zog aus ihrem Busen ein kleines Traktätchen, das sie dem Alten auf das Bett

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