Der Richter und sein Henker - Der Verdacht
Das Leben war eine Pose, das Sterben eine Phrase, das Begräbnis eine Reklame und das Ganze ein Geschäft. C'est ça. Könnte ich Sie durch dieses Spital führen, Kommissär, durch diesen Sonnenstein, der mich zu dem gemacht hat, was ich nun bin, weder Weib noch Mann, nur Fleisch, das immer größere Mengen Morphium braucht, um über diese Welt die Witze zu machen, die sie verdient, so würde ich Ihnen, einem ausgedienten, erledigten Polizisten, einmal zeigen, wie die Reichen sterben. Ich würde Ihnen die phantastischen Krankenzimmer
aufschließen, diese bald kitschigen, bald raffinierten Räume, in denen sie verfaulen, diese glitzernden Zellen der Lust und der Qual, der Willkür und der Verbrechen.«
Bärlach gab keine Antwort. Er lag da, krank und unbeweglich, das Gesicht abgewandt.
Die Ärztin beugte sich über ihn.
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»Ich würde Ihnen«, fuhr sie unbarmherzig fort,
»die Namen derer nennen, die hier zugrunde gingen und zugrunde gehen, die Namen der Politiker, der Bankiers, der Industriellen, der Mätressen und der Witwen, ruhmreiche Namen und jene unbekannter Schieber, die mit einem Dreh, der sie nichts kostet, die Millionen verdienen, die uns alles kosten. Da sterben sie denn in diesem Spital. Bald kommentieren sie das Absterben ihres Leibes mit blasphemischen Witzen, bald bäumen sie sich auf und stoßen wilde Flüche über ihr Schicksal aus, alles zu besitzen und doch sterben zu müssen, oder plärren die widerlichsten Gebete hinein in ihre Zimmer voll von Brokat und Seide, um nicht die Seligkeit hienieden mit der Seligkeit des Paradieses vertauschen zu müssen. Emmenberger gewährt ihnen alles, und sie nehmen unersättlich, was er ihnen bietet; aber sie brauchen noch mehr, sie brauchen die Hoffnung: auch diese gewährt er ihnen. Doch der Glaube, den sie ihm schenken, ist der Glaube an den Teufel, und die Hoffnung, die er ihnen schenkt, ist die Hölle. Sie haben Gott verlassen, und einen neuen Gott gefunden. Freiwillig unterziehen sich die Kranken den Torturen, begeistert über diesen Arzt, um nur noch einige Tage, einige Minuten länger zu leben (wie sie hoffen), um sich nicht von dem zu trennen, was sie mehr als Himmel und Hölle lieben, mehr als die Seligkeit und die Verdammnis: von der Macht 278
und von der Erde, die ihnen diese Macht verlieh.
Auch hier operiert der Chef ohne Narkose, Alles, was Emmenberger in Stutthof tat, in dieser grauen, unübersichtlichen Barackenstadt auf der Ebene von Danzig, das tut er nun auch hier, mitten in der Schweiz, mitten in Zürich, unberührt von der Polizei, von den Gesetzen dieses Landes, ja sogar im Namen der Wissenschaft und der Menschlichkeit; unbeirrbar gibt er, was die Menschen von ihm wollen: Qualen, nichts als Qualen.«
»Nein«, schrie Bärlach, »nein! Man muß diesen Menschen abschaffen!«
»Dann müssen Sie die Menschheit abschaffen«, antwortete sie.
Er schrie wieder sein heiseres, verzweifeltes Nein und richtete mühsam seinen Oberkörper auf.
«Nein, nein!« kam es aus seinem Munde, doch konnte er nur noch flüstern.
Da berührte die Ärztin nachlässig seine rechte Schulter, und er fiel hilflos zurück.
»Nein, nein«, röchelte er in den Kissen.
»Sie Narr!« lachte die Ärztin. »Was wollen Sie mit Ihrem Nein, Nein! In den schwarzen Kohlen-gebieten, woher ich komme, habe ich auch mein Nein, Nein zu dieser Welt voll Not und Ausbeutung gesagt und fing an zu arbeiten: in der Partei, in den Abendschulen, später auf der Universität und immer entschlossener und hartnäckiger in der Partei. Ich studierte und arbeitete um 279
meines Nein, Nein willen; aber jetzt, Kommissär, jetzt, wie ich in diesem Ärztekittel an diesem nebligen Morgen voll Schnee und Regen vor Ihnen stehe, weiß ich, daß dieses Nein, Nein sinnlos geworden ist, denn die Erde ist zu alt, um noch ein Ja, Ja zu werden, das Gute und das Böse sind zu sehr ineinander verschlungen in der gottverlassenen Hochzeitsnacht zwischen Himmel und Hölle, die diese Menschheit gebar, um je wieder voneinander getrennt zu werden, um zu sagen: Dies ist wohlgetan und jenes von Übel, dies führt zum Guten und jenes zum Schlechten. Zu spät! Wir können nicht mehr wissen, was wir tun, welche Handlung unser Gehorsam oder unsere Auflehnung nach sich zieht, welche Ausbeutung, was für ein Verbrechen an den Früchten klebt, die wir essen, am Brot und an der Milch, die wir unseren Kindern geben. Wir töten, ohne das Opfer zu sehen und ohne von ihm zu wissen, und wir werden getötet, ohne daß der
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