Der Ring
wohl weh, aber Jeff sagte nichts.
Der Finger war weg; die Kompresse auf dem Stumpf war von Blut durchnäßt. Annie legte frisches Material auf und band die Wunde mit einiger Geschicklichkeit wieder ein. Ihre Berührung war überraschend sanft. Jeff musterte von neuem ihr Gesicht und sah jetzt die mitfühlenden Linien darin. Die Haut war rauh, die Gesichtszüge wirkten irgendwie übertrieben – aber die Persönlichkeit ließ sich sehen, wie er jetzt feststellte. Annie gab ohne Getue von sich aus, was gebraucht wurde. Was mehr konnte der Anspruchsvollste verlangen?
Jeff dachte an eine andere Frau, die so war.
Er konnte in der Ferne Trommelschlag hören, als ob der Sabbat, den Annie erwähnt hatte, seinen Höhepunkt erreichte. Dies war das echte Gunnardorf: ein Mann mit Ehrgeiz, eine Frau mit Mitgefühl, Schmutz überall und im Hintergrund ein Trommelschlag, der den Beginn geschmackloser Freuden von Oberstadt-Besuchern signalisierte.
Er fragte sich, was Alice jetzt gerade tat.
„Gut“, sagte Jeff. „Ich werde Ihnen sagen, wo ich stehe, und was ich tun will, und Sie sagen mir, wovor ich mich in acht nehmen muß. Wenn es glückt, habe ich meine Abrechnung, und Sie bekommen das Geld, das Sie haben wollen. Dann brauchen Sie sich keine Gedanken mehr darüber zu machen, wie Sie am besten Bier stehlen – dann kaufen Sie den Laden. Vielleicht sollten wir eine Art Vertrag entwerfen – eine Übereinkunft, damit niemand betrogen wird.“
„Nee“, sagte Ed. „Ich brauche bloß genug, um mir einen kleinen Handel in der Oberstadt zu kaufen, und vielleicht noch ein bißchen Ware. Ich kümmer’ mich schon um Flachkopf und Annie.“
„Damit wir heiraten können“, sagte Annie.
Jeff zuckte zusammen, aber sie bemerkten es nicht.
„Ja“, stimmte Ed zu.
„Sie wollen keinen Vertrag?“
„Gibt keinen Vertrag, der so sicher ist wie der gute Wille eines Mannes“, sagte Ed. „Und den können die Bullen nicht als Beweis verwenden.“
Plötzlich wußte Jeff, daß alles sich einrenken würde.
2
Der Regen war längst vorbei, aber ein Abendnebel war geblieben, in dem die Scheinwerfer anderer Fahrzeuge verschwammen. George McKissic saß im Rücksitz des großen Duos und sah die farbigen Lichter der Stadt vorbeihuschen. Der Duo fuhr auf die Hochstraße hinauf, und der Glanz schien unter ihnen wegzusinken, als der Wagen kletterte. Die Wirkung verursachte ihm Unbehagen.
„Wohin bringst du mich, Philip?“ wollte er wissen.
„Zum Leichtfuß-Palast, um Ihre Tochter herauszuholen, Mister McKissic“, sagte Philip. Sein Gesicht auf dem Bildschirm war ernst.
McKissic erinnerte sich – obwohl er sich nicht entsann, die Anweisungen dazu gegeben zu haben. Philip mußte sich die Aufzeichnung angehört und geeignete Schritte unternommen haben. Es war diese Art untergebener Tätigkeit, die ihn so lange in McKissics Diensten gehalten hatte. Die standfeste Loyalität von Leuten. wie Philip und diesem beringten Mädchen, das angerufen hatte, war ein bitter benötigtes Bollwerk gegen … das, was kam.
„Philip, ich hätte gern, daß du mir deine persönliche Meinung sagst.“
Die Augen blieben auf die Straße vor ihnen gerichtet. „Mister McKissic, in meiner Eigenschaft als …“
„Ich weiß, Philip, ich weiß. Aber du weißt ebenso gut wie ich, daß unsere Verbindung ganz dicht vor ihrem Ende steht. Mache dir keine Sorgen – für dich wird gut gesorgt, ebenso wie für alle meine Mitarbeiter. Aber du hast mir eine Reihe von Jahren nahegestanden und bist auf einzigartige Weise in der Lage, dir eine fundierte Meinung zu bilden. Bitte: Ich frage dich von Mann zu Mann, sprich ohne Hemmung.“
„Gewiß, Mister McKissic.“ Der Wagen bog nach links und folgte einer beschilderten Umleitung; vorübergehende Verschalungen verdeckten die nächtliche Szenerie.
„Was hältst du von meiner Tochter?“
„Sie ist gewiß ein reizvolles Mädchen, Mister McKissic, aber fast völlig ohne Verantwortungsgefühl. Sie braucht verzweifelt Führung. Sehr feste Führung.“
McKissic schloß die Augen. „Den Ring?“
„Nein, Mister McKissic. Der Ring würde sie nicht führen, sondern zerstören. Sie braucht menschliche Zuwendung, flexible Kontrolle.“
„Was ich ihr nie gegeben habe.“
„Sie haben es versucht, Mister McKissic – aber Sie waren nicht imstande, sie zu züchtigen, und daher war es ihr auch nicht möglich, Sie zu respektieren. Ein Kind braucht Disziplin ebenso wie Zuneigung, wenn es einen starken Willen hat –
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