Der Ring Der Jaegerin
Ich rappelte mich ein bisschen unbeholfen auf, etwas klapprig fühlte ich mich doch, und nahm das schwere Buch von dem Altar. Ich legte es in den Korb, den ich mitgebracht hatte, und deckte ein Geschirrtuch darüber. Dann warf ich noch mal einen Blick in die Runde, aber alle schienen stark mit sich beschäftigt zu sein. Oder blinzelte da nicht Tamara verschlafen in unsere Richtung? Egal, sie reagierte jedenfalls nicht, also folgte ich Minni, die mir unter dem Hinterlassen einer Wolke weißer Haare voraus die Treppen emporlief, und wir fanden uns in der eleganten Diele wieder. Beinahe wären wir gänzlich unbeobachtet entkommen, doch ein Butler hielt mich kurz vor der Haustüre an.
»Sie sind jetzt fertig, gnädige Frau?«
»Ja, ich denke, ja. In einer Viertelstunde wird Madame hochkommen. Ich habe leider Termine und musste früher gehen.«
Er öffnete zuvorkommend, und ich bemühte mich um einen würdevollen Abgang. Minni huschte vor mir die Auffahrt entlang und unter dem Tor hindurch, das sich wie von Geisterhand – jedoch wieder nur durch prosaische Elektrik – geschoben vor mir öffnete.
Ich war froh, als ich im Auto saß. Minni wollte nicht gelten lassen, dass ich mich einen Moment ausruhte, und ich fuhr einige Straßen weiter. Dann musste ich aber anhalten, um meinen Kreislauf, oder was auch immer, wieder auf normale Tätigkeit umzustellen. Ich zitterte an Händen und Füßen, die Zähne klapperten mir, und Tränen liefen über mein Gesicht. Minni blieb ruhig neben mir sitzen und wartete, bis der Anfall vorbei war.
»Hast dich ganz gut gehalten. Geht’s jetzt wieder? Ich erkläre dir das alles, wenn wir zu Hause sind.«
Der Gedanke an einen heißen Tee, möglichst mit einem Schuss Rum, gab mir den ausreichenden Antrieb, mich endlich auf den Heimweg zu machen.
Es war schon kurz nach elf, bis ich den schweren Korb auf dem Sofa abstellte und erst mal in die Küche ging. Als ich mit der Kanne und einer dampfenden Tasse starkem Pfefferminztee zurückkam, hatte Minni bereits das Tuch über dem Buch weggezogen und beschnüffelte es inniglich. Dann wandte sie ihr zitterndes Näschen zu mir hin und meinte: »Pfefferminztee ist jetzt genau das Richtige. Du bist erschöpft. Komm, setz dich zu mir.«
»Sag mal, was habe ich da eigentlich eben erlebt, Minni? Spinne ich jetzt vollkommen?«
Der Tee war noch zu heiß, um ihn zu trinken, und ich stellte ihn auf den Tisch.
»Nein, Katharina. Du hast nur die Kräfte eingesetzt, die du schon immer besessen hast. Dieser Hokuspokus, den die Frauen da betrieben haben, ist nur äußerliches Beiwerk. Manchen hilft es, sich zu entspannen und damit die tieferen Möglichkeiten zu entfalten. Aber du hast einen ziemlich starken Willen, der in die eine oder andere Richtung wirkt. Bisher hast du ihn nur eingesetzt, um diese Kräfte zu unterdrücken, heute hast du – vermutlich zum ersten Mal – deinen Willen benutzt, um sie wissentlich einzusetzen. Kam ganz gut.«
»Du … du willst damit sagen, jeder hat die?«
»Mehr oder weniger. Manche trainieren sie, manche ignorieren sie, bei manchen tauchen sie unkontrolliert auf, manche nennen es Intuition und richten sich danach. Und du willst doch nicht sagen, dass du dir nicht auch schon mal eine Entscheidung aus dem Bauch gegönnt hast.«
»Doch, und die ging gewaltig in die Hose.«
Ich dachte an meine kurze, aber schreckliche Ehe und schüttelte mich.
»Bist du sicher, dass du dich da auf das richtige Gefühl verlassen hast?«
Minni sah mich mit ihren Saphiraugen fragend an, und ich hatte plötzlich einen Erkenntnisschub. Ich schwieg eine ganze Zeit, um das zu verdauen, und nippte nur hin und wieder an meiner Tasse.
Minerva strich ein wenig im Zimmer herum, dann sprang sie wieder zu mir auf das Sofa und meinte, jetzt müssten wir uns endlich dem Buch widmen. Meine Neugier war auf einen Schlag wieder da. Ich wuchtete den schweren Lederband aus dem Korb und legte ihn vor mich hin. Dickes rotes Leder, nur wenig fleckig vom Alter, umgab die Seiten. Es war etwa vierzig Zentimeter lang, dreißig breit und gut zehn Zentimeter dick. Lederriemchen hielten den Deckel und die Rückseite zusammen, je zwei an den beiden kurzen Seiten und drei an der Vorderseite. Diese Riemchen waren jedes mit einem Klecks Siegellack auf dem Buchdeckel verklebt. Eingedrückt in jedem Siegel war ein Symbol, das mich vage an astrologische Zeichen erinnerte. Unter jedem Siegel schienen Buchstaben zu stehen, eingestanzt in das Leder, aber halb verdeckt durch
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