Der Ring des Highlanders: Roman (German Edition)
vorgegangen war. Ihr Leben lang hatte Grammy Bea Elizabeth von den Frauen in ihrer Familie erzählt, die angeblich diese Gabe besessen hatten. Die letzte war ihre vor fast zwanzig Jahren verstorbene Großtante Sylvia gewesen. Alle diese Frauen hatten etwas Absonderliches oder eine körperliche Anomalie besessen. Elizabeths Ururgroßmutter hatte angeblich Augen verschiedener Farbe gehabt. Großtante Sylvia war mit taillenlangem Haar zu Welt gekommen, das ihr Leben lag erstaunlich rasch nachgewachsen war. Elizabeth konnte sich erinnern, dass sie mit elf oder zwölf bei Sylvias Beerdigung gesehen hatte, dass das geflochtene Haar ihrer Großtante den Sarg beinahe ausgefüllt hatte.
Elizabeth zupfte an ihrer weißen Strähne, zog sie nach vorne und hob den Blick, ehe sie die Haare mit einem Seufzer wieder zurückblies. Als Kind hatte sie über Grammy Beas Geschichten gelacht und sie abgetan als Geschichten, die ein wenig Aufregung in das Leben eines einsamen Mädchens bringen sollten.
Nun, jetzt lachte sie nicht mehr.
Zurück ins Krankenhaus konnte sie nicht. Nicht, wenn die vielen kranken und verletzten Menschen an ihr zerrten. Nicht, wenn sie ihren Verstand behalten wollte.
Das Schrillen des Telefons durchbrach die Stille des Stadthauses. Elizabeth zuckte erschrocken zusammen, verschüttete einen Teil ihres Drinks und starrte das Telefon auf dem Tisch neben der Couch an.
Sie wollte mit niemandem sprechen.
Es läutete fünfmal, ehe sich der Anrufbeantworter einschaltete. Elizabeth lauschte ihrer eigenen Stimme, die den Anrufer aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen. Ihr Atem stockte, als James Kesslers Stimme plötzlich in ihrem Wohnzimmer ertönte.
»Elizabeth! Bist du da? Nimm den Hörer ab, Elizabeth. Ich möchte mit dir reden.«
Zehn Sekunden Stille.
»Elizabeth! Heb endlich ab und sag mir, was mit Jamie Garcia passierte. Ich weiß, dass du heute Nachmittag bei ihm warst. Seine Monitore gingen aus, und als Sally Pritchard hineinlief, um nach ihm zu sehen, sah sie, wie du gingst.«
Wieder zehn Sekunden Stille, dann: »Elizabeth, du sollst abheben!«
Sie tat einen Schritt vorwärts und hielt inne. James Kessler war Neurologe und Freund der Familie, und Jamie Garcia war sein Patient. Er wollte von ihr eine Erklärung, doch was konnte sie ihm sagen? Dass sie den Jungen durch Handauflegen wundersam geheilt hatte?
»Verdammt, Elizabeth. Ruf mich sofort an, wenn du nach Hause kommst.«
Der Anrufbeantworter piepste, und das rote Licht leuchtete in dem Moment auf, als James auflegte. Elizabeth trank noch einen Schluck Scotch.
Sie musste hier raus. Zum Teufel, sie musste weg aus Kalifornien. Es war unmöglich, James oder ihren anderen Kollegen oder sogar Esther Brown gegenüberzutreten. Wie sollte sie ihnen etwas erklären, das sie sich selbst nicht erklären konnte?
Sie brauchte Zeit zum Überlegen – und etwas Abstand konnte nicht schaden. Ehe sie nicht eine Erklärung gefunden hatte, die sie nicht ins Irrenhaus brachte, musste sie allen aus dem Weg gehen.
Aber betraf das auch ihre Mutter? Katherine kannte die Familiengeschichte, und wie Elizabeth glaubte auch sie lieber daran, dass ihre weiblichen Vorfahren eher exzentrisch als mit übernatürlichen Kräften ausgestattet waren. Ungewöhnlich langes Haar, verschiedenfarbige Augen oder eine weiße Strähne war nichts, was einen zur Hexe verdammte, es war, nun ja, es war der Stoff, aus dem Familienlegenden sind.
Natürlich hatte Elizabeth in ihrer Kindheit häufig mit ihrer Mutter über Grammy Beas Geschichten gesprochen, die Katherine immer rasch als Wunschdenken abgetan hatte. Bea wäre immer neidisch gewesen, weil Tante Sylvia behauptete, sie sei diejenige, die diese Gabe geerbt hätte. Bea selbst hatte Kräuter angepflanzt, geerntet und verarbeitet und auf ihrer kleinen Farm in den Bergen verkauft. Und da Bea nur eine Tochter hatte und Katherine kein ›Zeichen‹, das sie als etwas Besonderes hervorgehoben hätte, projizierte Bea die Gabe auf ihre Enkelin.
Elizabeth fand diese Erklärung vernünftig.
Damals zumindest.
Doch das erklärte nicht, was heute passiert war. Jetzt noch spürte sie ein Nachbeben der ungewöhnlichen Energie. Ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Watte ausgestopft. Ihr dunkles Wohnzimmer schien wie von einem unnatürlichen Licht sanft durchflutet, das sie auf ganz besondere Weise wahrnahm.
Elizabeth setzte sich wieder auf die Couch und starrte ins Feuer. All die Jahre hatte Grammy Bea sich so sehr bemüht, ihr einen
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