Der Riss im Raum
– Hast du das Herrn Jenkins übersetzt?«
»Ich hoffe, es ist mir gelungen.«
»Gib nicht auf, Meg. Wir werden uns später erholen und entspannen – sofern wir nicht … « Sie spürte den intensiven, nagenden Schmerz, aber schon zog Proginoskes ihn aus ihrem Bewußtsein wieder zurück. »Einige der Altehrwürdigen können nicht nur innerhalb ihres Gastkörpers von Mitochondrion zu Mitochondrion kythen, sondern auch zu Farandolae in den Mitochondrien anderer Menschen. Erinnerst du dich, wie schockiert Sporos war, als Calvin sagte, daß ihr Erdenbürger dazu nicht in der Lage seid?«
»Ja. Aber Herr Jenkins will wissen, warum Sporos wie eine Spielzeugmaus durch die Gegend zappelt, und ich kann es ihm nicht erklären, Progo, weil ich es selbst nicht begreife. Er gleicht nicht im geringsten den – den Unterwasserwesen, die du uns soeben gezeigt hast.«
»Wie Sporos selbst sagte, ist er noch ein Kind. Allerdings hat er den Zeitbegriff etwas großzügig ausgelegt, als er behauptete, erst gestern geboren worden zu sein. Als Farandola hat er bereits mehrere Frühstadien durchlaufen und steht an der Schwelle zum – nun, sagen wir: zum Jünglingsalter, in dem es gilt, Wurzeln zu schlagen und eine voll ausgereifte Fara zu werden. Auch für Sporos ist es bald an der Zeit, seine Kindheit abzulegen und sich zu versenken, sich einzutiefen. Tut er es nicht, haben die Echthroi einen weiteren Sieg errungen.«
»Warum sollte er nicht – eintiefen?«
»Calvin hat Probleme, mit ihm zu kythen. Sporos ist ungewöhnlich zurückhaltend. Wir müssen ihn darin bestärken, sich zu vertiefen, Meg! Das dürfte wohl unser zweiter Auftrag sein!«
Einen unwilligen Sporos zum Vertiefen zu bringen – was immer das auch bedeutete —, war wahrscheinlich eine noch schwerere Prüfung, als von drei Jenkinsen den richtigen zu benennen. »Wie soll uns das gelingen?« fragte sie.
Er antwortete mit einer Gegenfrage: »Bist du innerlich gelöst?«
Sie löste sich, löste sich ab, glitt einmal mehr hinüber in den unerklärbaren Bereich jenseits aller Gefühle, ohne jedoch ganz zu vergessen, daß sie jetzt in Charles Wallace war, im Wortsinn: in ihrem Bruder. Sie war so winzig klein geworden, daß selbst das stärkste Elektronenmikroskop sie nicht erfassen, das empfindlichste Mikro-Sonaroskop sie nicht orten konnte. Sie wußte auch nach wie vor, daß von der unmittelbar bevorstehenden Entscheidung das Leben ihres Bruders abhängen würde. Und nun begann sie auch zu ahnen, warum Proginoskes gemeint hatte, Gefühle seien gefährlich. Sie hielt sich ganz still, ganz kühl, ganz gelöst – und wandte sich zuletzt dem Cherubim in stillem Kythen zu.
»Sei eine Fara!« befahl er ihr. »Versetze dich in ihre Lage. Sind den Ansiedlern in Yadah größere Beschränkungen auferlegt als menschlichen Wesen, nur weil sie an ihren Platz gebunden sind, sobald sie Wurzeln geschlagen und sich vertieft haben? Auch die Menschen brauchen einen Ort, an dem sie Fuß fassen und sich versenken können, und nur allzu viele finden ihn nie. Denke an deinen Ort der Versenkung, Meg. Öffne dich ganz dem Kythen.«
Sie kehrte zurück in die seltsame Welt jenseits des Lichtes, jenseits aller Stimmen, zu der nur der Sog der Gezeiten Zutritt fand, der rhythmische Atem von Mond und Sonne, der Lebensatem der Erde. Sie wurde eins mit ihrem Kythen.
Eingetiefte, versenkte Geschöpfe wiegten sich in entrücktem Gesang, in grenzenlosem Glück …
Und dann brach schlagartig die Kälte herein. Eine schreckliche Kälte, die das Blut in den Adern gefrieren ließ. Die Fühler, die sich Meg bereits entgegengestreckt hatten, zuckten hastig zurück in völlige Isolation; Meg und Proginoskes waren sich selbst ausgesetzt, verloren jede Verbindung untereinander.
Der Gesang wurde schrill und mißtönend, brach aus seinem Gefüge, stieß Meg ab, stieß sie aus …
Etwas Schlimmes war geschehen. Etwas war bedrohlich aus der Ordnung geraten.
Proginoskes warf sich ihr entgegen, strömte in sie ein. »Nicht weiter, Meg! Das genügt fürs erste. Wir müssen uns mit den anderen vereinen, mit Calvin, Herrn Jenkins und Sporos, ehe … «
»Ehe – was?«
»Ehe wir uns an die zweite Prüfung wagen. Wir müssen von nun an alle beisammenbleiben. Öffne dich und kythe Calvin zu.«
»Wo ist er?«
»Das ist doch unerheblich, Meg. Du mußt dir endlich darüber klarwerden, daß in den Mitochondrien das Wo ohne Bedeutung ist. Hier zählt nur das Warum, das Wer und das Wie.«
»Calvin … !« Sie dachte
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