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Der Riss im Raum

Der Riss im Raum

Titel: Der Riss im Raum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
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wildschäumenden Strudel einsog …
    Calvin versuchte verzweifelt, sich wieder aufzurichten, sich von dem furchtbaren Schlag zu erholen …
    Das Bild verschwand.
    Calvins Bild war verschwunden, aber er selbst war da, war in ihr, war Teil ihres eigenen Seins geworden. Meg hatte jene Grenzen überschritten, die das Bild eines Menschen auf sinnhafte Wahrnehmung reduziert; sie war in einen Bereich vorgedrungen, in dem Bilder entbehrlich waren. Jetzt kythete sie: Calvin . Nicht: Calvin mit den roten Haaren. Nicht: Calvin mit den Sommersprossen. Nicht: Calvin mit den blauen Augen. Nicht: Calvin mit dem strahlenden Lächeln. Nur: Calvin. Auch seine vertraute tiefe Stimme, in der es manchmal knisterte und zuckte, hörte sie nicht länger. Da war nichts mehr, nichts als:
    Calvin .
    Sie war bei ihm, in ihm, Atom für Atom in reinem Kythen. Und sie gab ihm all die Kraft und Stärke, all die Hoffnung zurück, die er ihr geschenkt hatte.
    Als sie fühlte, daß Proginoskes sie erreichen wollte, riß sie sich widerstrebend von Calvin los und wandte sich dem Cherubim zu.
    »Meg, ich kann Calvin helfen, nicht aber Herrn Jenkins. Vielleicht gelingt es dir. Du mußt dich bemühen, zu ihm vorzudringen.«
    Meg zuckte zurück. Standen ihr denn nicht erneut Schmerzen und Qualen bevor, wenn sie versuchte, den Echthros-Jenkins zu fassen? Diesmal würden ihr die kleinen Farandolae nicht zur Hilfe kommen …
    Nein. Sie wollte es nicht wagen. Sie konnte sich nicht dazu überwinden, in vollem Bewußtsein der Folgen diesen unerträglichen Schmerzen entgegenzugehen.
    Aber Herr Jenkins hatte das getan. Er hatte sich in den tödlichen Strudel gestürzt, um sie zu retten. Nur aus Liebe zu ihr war Herr Jenkins jetzt von den Echthroi besessen.
    Seufzend fügte sie sich in ihre Bestimmung und wandte sich dem wahren Herrn Jenkins zu, der irgendwo, irgendwie in diesem Zerrbild eines Echthros steckte.
    »Herr Jenkins!« Sie gab ihm ihr ganzes Kythen. Und nun erschien er ihr in neuem Licht. Sie sah nicht mehr seine schütteren fahlgrauen Haare, die ebenso unauffällig waren wie ihre; sie sah nicht mehr seine trüben Eulenaugen hinter den dicken Gläsern seiner Hornbrille; sie sah nicht mehr die hängenden, mit fetten Schuppen überzuckerten Schultern. Sie blickte jetzt tiefer – hinter, durch, über das mit den Sinnen Erfaßbare – ließ den Anschein hinter sich und drang zu seinem wahren Sein vor. So, wie eben noch bei Calvin, war sie jetzt bei Herrn Jenkins und kythete ihm uneingeschränkt zu.
    Tief aus dem Echthros-Abklatsch kam Antwort: Herr Jenkins wollte ihr etwas mitteilen. Ein ums andere Mal leierte er seinen Spruch – bis Meg verstand, denn das hatte er schon zuvor gesagt: »Jedes Vakuum ist wider die Natur.« Mehr brachte er nicht heraus.
    Sie klammerte sich daran. Wenn die Echthroi das Nichts waren, und Herr Jenkins nun Teil dieses Nichts, und wenn auch Calvin hineingeext werden sollte …
    »… dann fülle es! Fülle es aus!« kythete Calvin ihr mit letzter Kraft zu.
    Sein Ruf löste ein geradezu greifbares Bild aus:
    Charles Wallace. Sein Gesicht blau angelaufen. Er keucht. Die Eltern an seinem Bett. Dr. Louise an der Sauerstoff-Flasche, die Atemmaske in der Hand. Fortinbras quer über die Schwelle gestreckt, als wolle er den Sensenmann daran hindern, den Raum zu betreten …
    »Fülle es! Erfülle es!«
    Megs Sinne waren gelähmt. »Progo! Progo! Was soll ich machen?«
    Sie hörte nur ein Echo von Calvins Aufforderung: »Fülle das Vakuum! Erfülle es!« Der Cherubim kämpfte mit dem Mut der Verzweiflung – nicht um sein Leben, sondern um Meg, um Charles Wallace, um die singenden Farae, um den Weiterbestand alles Seins.
    »Progo!« flehte sie ihn an. »Calvin kann nicht mehr lange Widerstand leisten. Muß ich in den Echthros eindringen? Ist es das, was man mir auferlegt hat? Und – und wenn ich ihm – unterliege? Was dann?«
    Sie wußte es. Sie wußte, was Proginoskes dann tun würde.
    Calvin erlag zusehends den furchtbaren Hieben, die der Echthros-Jenkins erbarmungslos auf ihn niederhageln ließ …
    Meg warf sich dem Phantom entgegen. Mit der bloßen Kraft ihres Kythens versuchte sie, den Echthros an den Armen zu packen und von Calvin fortzureißen.
    Der Schmerz.
    Sie wußte, daß er wiederkommen würde. Da war er nun.
    Todesangst. Rote Pein, die sich über die Augen legte …
    Mit ihr wand sich auch Charles Wallace in schrecklichen Qualen. Hilflos mußten seine Eltern mitansehen, wie sich der zarte, schmächtige Körper in Krämpfen

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