Der Riss
„Ist mal was anderes.“
„Das ist es, was ich an Bixby mag: Immer wieder mal was anderes.“
„Was ist mit dir?“, fragte er. „Ein ganzer Tag ohne … wie nennst du das? Gedankenlärm? Ist das kein Traum für dich?“
„Sollte man meinen, nicht wahr?“, sagte Melissa. „Aber während der Riss größer wird, werden all die anderen Hirne geschluckt, die unsere Midnight verseuchen. Ehrlich gesagt, Flyboy, mir wäre es am liebsten, wenn die geheime Stunde für immer nur für uns fünf bleiben würde.“
„Hm“, sagte Jonathan leise. So hatte er das noch nicht betrachtet: Zusätzlich zu Tod und Zerstörung würde aus der Midnight etwas Öffentliches werden, etwas weniger Besonderes. „Mir auch.“
Sie bogen in Jessicas Straße ein, fünf Minuten zu früh.
Sie stand schon draußen und rannte auf das Auto zu, riss die Tür auf, noch bevor der Wagen zum Stehen gekommen war. Sie ließ sich auf den Rücksitz fallen und sagte: „Okay.
Fahr los.“
„Entspann dich, Jess“, sagte er. „Wir sind zu früh.“
„Ich muss früh da draußen sein, okay?“
Einen Augenblick lang fragte sich Jonathan, was sie meinte, aber dann, langsam aber sicher, wurde ihm die einzig mögliche Erklärung bewusst.
„Beth?“
„Fahr einfach.“
„Hat sie dir heute Abend Schwierigkeiten gemacht?“ Jonathan schüttelte den Kopf. „Das macht nichts, okay? Bis morgen die Sonne aufgeht, haben tausend Leute die blaue Zeit selbst gesehen. Es gibt kein Geheimnis mehr!“
„Das weiß ich alles.“ Ihre Stimme klang angespannt, ängstlich. „Wir müssen aber losfahren. Beth ist in Schwierigkeiten.“
Er legte den Gang ein und scherte auf die Mitte der Fahrbahn aus. „Ist sie etwa immer noch da draußen unterwegs?“
„Viel schlimmer. Sie ist in Jenks.“
„Was?“
„Sie übernachtet bei Cassie Flinders.“
Melissa griff sich mit einer Hand an den Kopf. „Leute … “
Jonathans Augen weiteten sich. „Das ist aber doch direkt neben dem Riss!“
„Weiß ich!“, heulte Jessica.
„Leute!“, sagte Melissa, legte den Kopf zurück und schloss die Augen. „Beruhigt eure Gedanken!“
Jonathan hielt an der nächsten Ampel an, sah in beide Richtungen und dann in den Rückspiegel, versuchte, ruhig zu denken, entspannende Gedanken … was nicht ging.
„Links abbiegen“, flüsterte Melissa plötzlich. „Nicht auf die Ampel warten.“
Jonathan riss das Lenkrad herum, trat aufs Gas und peitschte den Wagen auf die Kerr Street.
„Er hat uns gesehen. Er kennt dein Auto … “ Sie zuckte.
„Scheiße. Es ist St. Claire.“
Sheriff Clancy St. Claire – Jonathans Fingerknöchel am Lenkrad wurden weiß, als er an die grinsende Fratze des Gesetzeshüters dachte. Der Sheriff konnte Jonathans Wagen auf eine Meile erkennen.
„Welche Richtung?“, fauchte er.
Melissa schüttelte den Kopf. „Weiß noch nicht. Kann keine anderen Wagen spüren, aber er meldet uns über Funk.“
Jonathan holte mit zusammengebissenen Zähnen Luft. Sie hatten nicht viel Zeit, um St. Claire zu entkommen. Bald würde sich noch ein Streifenwagen in die Jagd einschalten und dann noch einer – Bixbys Polizei gab sich nicht mit halben Sachen ab. Bis die Midnight anrollte, würden sie sich alle in Handschellen meilenweit von ihren Positionen entfernt aufhalten. Absolut unfähig, Beth oder sonst irgendwem zu helfen.
„Festhalten“, sagte er, trat das Gaspedal bis zum Boden durch und raste die Kerr Street hinunter. Wenige Sekunden später tauchten Blinklichter in seinem Rückspiegel auf, und eine Sirene heulte durch die Nacht.
„Oh nein“, sagte Jessica leise. Jonathan fiel ein, dass sie direkt nach ihrer Ankunft in Bixby von den Bullen nach Hause gebracht worden war – ein Teil ihrer Einführung in die Risiken der mitternächtlichen Stunde.
„Keine Sorge, Jess. Wir werden ankommen.“ Wieder riss Jonathan das Lenkrad herum, bog in eine kleine Wohnstraße mit dem Namen Mallard ein und hoffte, dass keine Halloweenbummler mehr unterwegs waren. Glücklicherweise hatte er Jessicas Stadtteil so oft aus der Vogelperspektive gesehen, dass er sich perfekt auskannte. Die Mallard schlängelte sich Richtung Innenstadt, dann gabelte sie sich eine Meile vor dem Highway. Wenn er nur vor der Gabelung ankam, bevor Clancy ihn wieder ins Blickfeld bekam, dann hatten sie eine Fünfzig-fünfzig-Chance, davonzukommen. Und das war besser als nichts.
Sie schlingerten die kurvenreiche Straße entlang, rasten durch enge Passagen zwischen parkenden Autos
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