Der Riss
schnell: „Außer deiner natürlich.“
„Daguerreotypes Selbstgefälligkeit ist Teil seines Charmes.“
Er stieß die Tür auf.
Das Zimmer roch nach einer Dreizehnjährigen. Keine Boygroup-Poster an den Wänden, keine Puppen. Die Wände waren übersät mit mehr Zeichnungen: Bleistiftlandschaften von Jenks und Umgebung, die Skyline von Bixby und Bohrtürme, alles ohne Farben.
„Nicht schlecht“, meinte Rex. Er deutete auf einen Notenständer, an dem eine Klarinette lehnte. „Kreativ, die Kleine.“
„Sehr gut. Niemand glaubt den Künstlerseelen.“
Cassie lag auf ihrem Bett, mit geschlossenen Augen, in ihre Laken verheddert – da kündigte sich kein guter Schlaf an. Melissa fragte sich, ob das Mädchen nach fünfzehn Stunden Starre so was wie einen Jetlag hatte, und knackte mit den Fingern.
Das konnte sie reparieren.
Rex’ verrückter Plan, die Darklinge aufzusuchen, hatte ihre Erregung auch nicht mindern können. Vor ihr lag ihr erstes professionelles Gedankenlesen, seit Madeleine sie angeleitet hatte.
„Federleicht“, murmelte sie leise.
Sie ließ ihre Finger leicht auf Cassies wächserner Haut ruhen, wie ein blaues Spinnenpaar über dem Gesicht des Mädchens gespreizt. Melissa schloss ihre Augen und trat in den kühlen Raum eines Gehirns, das die Zeit angehalten hatte.
Überall in Cassie lauerten schwache Spannungen, der Schock nach ihrem Ausflug in die geheime Stunde. Der Geschmack der Angst brannte auf Melissas Lippen, Furcht, dass die schwarze Katze wiederkehren könnte, Entsetzen, weil das Spinnenwesen vielleicht immer noch da draußen in den Wäldern war.
Das Mädchen hatte einen Künstlerblick, das musste Melissa zugeben. Die Gleiter, der alte Darkling, die Gesichter der Midnighter waren alle dadrin, so deutlich, als hätte sie Fotos geschossen. Während sie ihre Ängste glättete, verwischte Melissa die Erinnerungen zu schemenhaften Illusionen.
Wie einfach das jetzt ging, dachte sie. Anders als die ungelenken Versuche, die sie einst Gedankenlesen genannt hatte.
Gedanken und Erinnerungen standen wie Schachfiguren vor ihr, die auf ihre Befehle warteten.
Sie formte die Bilder in Cassies Gedanken um, löschte die Worte, die sie in ihrer Gegenwart gesagt hatten, und verwandelte alles in eine Art unsinnigen Brei aus Erinnerungen an einen Traum. Melissa schwächte den Sinn für Gefahr, machte alles vage und formlos, trennte es von der Realität außerhalb der Doppeltüren.
Ein einziges, perfekt geformtes Stück Entsetzen ließ sie ganz, eine Phobie ein paar Meter weiter weg und tausend Meilen tief …
Halte dich um Mitternacht von der Bahnlinie fern. Dadrunter lebt etwas sehr Hässliches.
„Fertig.“ Melissa lächelte, als sie ihre Hände von Cassies Gesicht nahm. „Das war doch beeindruckend federleichtes Gedankenlesen.“
„Das war’s?“, fragte Rex. „Du warst so schnell. Höchstens dreißig Sekunden.“
Melissa strahlte. Sie waren ihr wie lange Minuten vorgekommen. „Ratazing, ratazong.“
„Hat sie mit irgendjemandem geredet? Irgendwem erzählt, was sie gesehen hat?“
Melissa holte tief Luft und streckte sich. „Seit ich sie hier abgeliefert habe, hat sie sich nicht vom Fleck bewegt, hat geschlafen und gedöst. Oma hat sie noch nicht einmal ans Telefon gelassen. Sie hat den ganzen Tag mit Wundliegen und Langeweile verbracht.“
„Aber wenn sie erzählt hat … “
„Entspann dich, Rex. Selbst wenn Cassie einen vollständigen Bericht bei der Nationalgarde abgeliefert hätte, wird sie sich morgen früh, wenn sie aufwacht, nicht erinnern, was sie ausgeplappert hat. Die Sache ist erledigt.“
„Vielleicht solltest du bei ihrer Großmutter nachsehen.“
„Rex, es gibt kein Problem. Glaub mir. Wir machen das seit Jahrtausenden so.“
Ihm stockte der Atem, und Melissa spürte einen Stich von seiner Eifersucht. Sie hatte ihn an all das Wissen erinnert, das sie von Madeleine erhalten hatte. Er war endlich darüber hinweggekommen, dass sie Jonathan berührt hatte, und er verstand die Sache mit Dess, aber wenn sie mit der alten Gedankenleserin zum Dachboden hinaufging, war es aus mit seiner Vernunft.
Komisch, er war es doch, der sich mit der Geschichte auskannte. Er wusste, wie Gedankenleser früher mit einem Händedruck Informationen ausgetauscht, Midnighternachrichten und Tratsch in Bixby schweigend verbreitet hatten. Im Vergleich mit diesen Zeiten war Melissa wirklich keine Geisterschlampe.
Sie trat einen Schritt näher an ihn heran. „Komm jetzt, gehen wir zum
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