Der Riss
bei dem leeren Ausdruck auf seinem Gesicht bekam Jessica eine Gänsehaut.
„Ist alles in Ordnung, Rex?“, fragte sie.
Er antwortete nicht und wandte sich nur an Melissa. „Hast du sie berührt?“
„Nein, ich habe gewartet. Habe ich doch versprochen.“ Melissa streckte die Hand nach ihm aus. „Loverboy, du siehst scheiße aus.“
„Fühl mich auch so.“ Rex nahm ihre dargebotene Hand und erschauderte, dann richtete er sich auf, als ob er Kraft von ihr bekommen hätte. „Danke.“
„Was soll der Mist, Rex?“, fragte Jonathan. „Hattest du vor, dich umbringen zu lassen?“
Rex dachte ein paar Sekunden über die Frage nach, als ob sie schwierig wäre, dann schüttelte er den Kopf. „Ich bemühe mich bloß um alle Standpunkte. Ich glaube, ich bin ein ziemlich lausiger Historiker gewesen.“
„Eher ein ziemlich lausiger Autofahrer!“, beschwerte sich Melissa. Sie deutete auf den alten Ford, der sich zu einer Seite neigte, nachdem die beiden Reifen rechts fast nur noch aus Metallfelgen bestanden. „Da lasse ich dich einmal allein mit meinem Auto fahren, und du erledigst es komplett!“
„Stimmt, sieht so aus.“
„Das kann doch nicht wahr sein, Rex! Mister Verantwortlich bringt seine geliehenen Bücher stets pünktlich in die Bibliothek zurück, aber bei meinem Auto macht er sich nicht mal die Mühe, auf der Straße zu fahren? Die Achse ist gebrochen!“
Als Jessica Melissa bei ihrer Tirade beobachtete – mit jedem Vorwurf packte sie Rex’ Hand fester, verschränkte ihre Finger mit seinen, beide Körper aneinandergelehnt, um sich gegenseitig zu stützen –, fiel ihr auf, wie gut die Gedankenleserin ihre Angst verborgen hatte, er könnte nie mehr zurückkehren.
Bei ihrer Berührung hatte sie auch nur einen kurzen Blick erhascht.
Endlich kam Melissas Schmährede stotternd zum Ende. Rex umarmte sie eine Weile schweigend, dann sagte er: „Ich werde das alte Biest in guter Erinnerung behalten. Es starb, um mir und Angie das Leben zu retten.“
Melissa entzog sich ihm und sah sich nach der erstarrten Gestalt in dem zerschmetterten Auto um. Mit tiefer Stimme knurrte sie: „Die ist jetzt jedenfalls mein Trostpreis. Jetzt ist sie mir wirklich was schuldig.“
„Warte noch“, sagte Rex.
„Kommt nicht infrage. Darauf habe ich schon zu lange gewartet.“
Er zog Melissa wieder an sich und legte ihr eine Hand an die Wange.
Kurz darauf wurden ihre Augen größer. „Was? Warum nicht?“
„Ich habe einen Deal mit ihr abgemacht.“
„Aber ich habe keinen Deal!“
„Hast du doch. Mit mir.“ Er schüttelte den Kopf. „Wir müssen warten, bis Mitternacht vorbei ist.“
Jessica fragte sich, ob sie die Einzige war, die nicht mehr mitkam. „Wovon redet ihr eigentlich?“
„Stimmt“, schloss sich Dess an, die immer noch einen blutigen Fetzen an den Riss über ihrem linken Auge hielt. „Könnten wir, die wir nicht durchgeknallt sind, vielleicht wenigstens Untertitel kriegen?“
Melissa riss sich aus Rex’ Umarmung, taumelte ein paar Schritte rückwärts und starrte ihn böse an. „Er will nicht, dass ich Angies Gedanken lese.“
„Wie bitte?“, fragte Dess.
„Angie hat mir ein paar Dinge über die Vergangenheit erzählt“, sagte Rex. „Über Midnighter und Grayfoots. Und dann haben wir einen Deal gemacht. Ich habe ihr versprochen, dass wir warten, bis die Midnight vorbei ist, und dann mit ihr reden. Einfach nur reden.“
„Moment mal“, schaltete sich Jonathan ein. „Willst du damit sagen, dass wir hier alle heute Nacht unser Leben riskiert haben, um zu plaudern ?“
„Kommt nicht infrage!“, schrie Dess.
Rex sah Jessica an und bat sie mit erschöpftem Blick um ihre Hilfe. „Wir brauchen keine Gedanken zu lesen“, sagte er.
„Wir können ihr vertrauen.“
„Auf was?“, giftete Melissa. „Dass sie uns weniger häufig kidnappt?“
„Ich habe nicht gesagt, dass Angie unsere Freundin ist oder so“, antwortete er, ohne den Blick von Jessica abzuwenden.
„Bei Weitem nicht. Aber in einer Beziehung ist sie wie wir: Sie will die Wahrheit über die Midnight herauskriegen. Wir müssen uns ihre Gedanken nicht gegen ihren Willen aneignen.“
Jessica holte tief Luft. In der Nacht, in der sie Cassie Flinders gerettet hatten, hatte sie ihnen ausreden wollen, die Erinnerungen des Mädchens zu löschen, und damals war sie im Großen und Ganzen ignoriert worden. Wenn aber sogar Rex zögerte, könnte die Sache diesmal anders laufen.
„Ich stimme Rex zu“, sagte sie.
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