Der Riss
durchsetzte.
Jonathan fragte sich noch einmal, warum sich die alte Gedankenleserin nicht bei ihnen hier unten aufhielt. Im Moment gab es jedoch dringendere Fragen, dachte er sich. „Und wie wollen wir eine ganze Stadt in einer einzigen Nacht organisieren?“
Rex schüttelte den Kopf. „Das weiß ich noch nicht.“ Er wandte sich an Jessica. „Erinnerst du dich, dass Angie meinte, Samhain hätte was mit dem Flammenbringer zu tun?“
„Logo“, antwortete sie. „Konnte man irgendwie kaum vergessen.“
„Also, ich habe ein paar Ideen, wie der Riss funktioniert.
Und die haben mit dir zu tun. Wir müssen aber ein paar Experimente durchführen. Ich will, dass wir uns alle morgen früh in Jenks treffen. Um halb sieben.“
Dess prustete. „Moment mal, Rex. Jetzt kommt eine um halb sieben morgens ? Davon hat mir keiner was gesagt.“
„Aber echt“, pflichtete Jonathan ihr bei.
Rex erhob sich von seinem Stuhl, plötzlich unmenschlich groß, seine Körpergröße schien bis zur Decke zu reichen. Seine Gesichtszüge verwandelten sich, die Augen wurden lang und groß wie bei einem Wolf und brannten violett. Seine Hände schlugen auf die Tischplatte, wie Klauen gekrümmt, dann kratzten sie in einer einzigen, langsamen, bedächtigen Bewegung über das Holz, seine Fingernägel blieben an jeder unebenen Stelle hängen.
Jonathan schluckte – die Kreatur war hinter der Maske hervorgetreten.
„Glaubt ihr, wir könnten Zeit mit Schlafen verplempern?“, sagte Rex mit einer Stimme, die sich kalt und trocken und uralt anhörte. „Tausende werden getötet, und für einige wird es schlimmer sein als der Tod. Die Alten werden sie zuerst aussaugen, jeden Tropfen Angst aus ihnen heraussaugen. Sie sind hinter euch her, seht ihr das nicht?“
Er stand da, starrte sie alle an, während sich das Haus mit den Echos seiner Worte füllte, wie Geflüster, das aus allen Ecken hervortrat. Jonathan glaubte zu sehen, wie das Gerümpel um sie herum einen Moment lang heller leuchtete, ein kaltes Feuer, das von den scharfen Kanten des blassblauen Metalls ausging.
Von oben hörte man so etwas wie ein Schluchzen, als ob Madeleine im Traum aufheulen würde, aber Jonathan traute sich nicht, hochzusehen. Zu viert starrten sie Rex wie betäubt und schweigend an. Seine plötzliche Verwandlung hatte anscheinend selbst Melissa überwältigt.
Es dauerte lange, bis er sich wieder setzte und tief Luft holte. „Ich weiß, das ist hart. Aber ihr könnt euren Schlaf nach Halloween nachholen.“
Seine Stimme hörte sich wieder normal an, trotzdem saßen sie alle noch verblüfft da. Jonathan hätte gern etwas gesagt, irgendetwas, um das Schweigen zu brechen. Aber das ganze Repertoire seiner Sprache – Begrüßungen, Verabschiedungen, Witze, sinnloses Geplapper – war anscheinend aus seinem Hirn geflohen.
Rex war plötzlich so außerirdisch. Als ob man mit einer Schlange plaudern wollte.
Schließlich räusperte sich Dess. „Na dann. Treffen wir uns sechs Uhr dreißig.“
Jessica sah Jonathan an und formte die Worte: Gehen wir.
Damit hatte Jonathan kein Problem. Ein paar anständige Flugstunden waren genau das, was er jetzt brauchte. Die Glieder strecken und von der Erde wegzusausen, so weit weg wie möglich von Rex mit seiner Abartigkeit.
Er dachte aber noch daran zu fragen: „Melissa, braucht ihr beiden vielleicht jemanden, der euch da rausbringt? Wo dein Auto doch kaputt ist.“
Sie sah Rex an, der verneinend den Kopf schüttelte, aber sonst nichts mehr sagte.
Spitze , dachte Jonathan. Vielleicht fliegen sie mit einem von seinen Darklingkumpels raus.
Es war noch Zeit, also machten sie sich auf den Weg in Richtung Stadtmitte.
„Was ist denn bloß mit Rex los?“, fragte Jonathan leise, nachdem sie Madeleines Haus weit hinter sich gelassen hatten.
„Frag mich nicht“, antwortete Jessica, die seine Hand drückte. „Ist dir aufgefallen, was er zum Schluss gesagt hat:
,Sie sind hinter euch her‘?“
„Womit wir gemeint sind – er nicht. Klingt aber auch logisch. In letzter Zeit versteht er sich gut mit den Darklingen.“
Jonathan wartete ab, bis sie vom Dach eines Trucks auf der Kerr Street abgefedert waren, dann fügte er hinzu: „Ich glaube aber, wir sind in Sicherheit, du und ich.“
„Na, da fühle ich mich ja gleich viel besser.“
Er sah sie an. „Ich meine bloß, wir sind sicher, solange wir zusammenhalten.“
Sie sagte nichts und drückte noch einmal seine Hand.
Sie erklommen die Gebäude der Innenstadt wie
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