Der Riss
Trittsteine, in großen Sprüngen auf die Spitze des alten Mobil-Gebäudes zu. Dort hatten sie sich verborgen, bevor Jessica ihr Talent entdeckte, damals, als die Darklinge sie unbedingt töten wollten.
Jonathan blickte über Bixby hinweg, das im gleichmäßigen, tiefblauen Leuchten der geheimen Stunde vor ihnen lag. Er schaute in Richtung Jenks, versuchte, den Riss zu entdecken, der rote Schimmer zeigte sich aber nicht am Horizont.
Jedenfalls noch nicht. Er wurde mit jeder Finsternis größer.
„Wir sind lange nicht hier gewesen“, sagte Jessica.
„Stimmt. Ich habe den Pegasus irgendwie vermisst.“ Er sah hoch. Das riesige Neonschild von Mobil Oil in der Gestalt eines Pegasus schwebte schützend über ihnen.
„Das ist nicht das Einzige, was mir gefehlt hat“, sagte Jessica. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Du weißt doch noch, was hier passiert ist, oder?“
Jonathan nickte. „Du meinst, als wir uns vor den Darklingen versteckt haben?“
„Genau. Aber nicht nur das.“
Er dachte eine Weile nach. Sie waren seit jenen Anfangstagen wirklich kaum mehr hier gewesen. Er zuckte mit den Schultern.
Jessica stöhnte. „Ich kann’s nicht glauben. Hier haben wir uns zum ersten Mal geküsst!“
„Stimmt ja!“ Er schluckte. „Aber das war ungefähr zur gleichen Zeit, oder? Ich meine, ich hab doch nur gesagt, dass wir uns hier versteckt haben, und das war, als wir … “ Jonathan kam ins Stocken, als ihm auffiel, dass er die Sache mit seinen Erklärungen nur schlimmer machte.
Er nahm sie bei den Händen, in der Hoffnung, dass er ihr Lächeln mit seiner Mitternachtsschwerelosigkeit zurückgewinnen könnte.
Sie sah ihn nur verständnislos an. „Ich kann nicht glauben, dass du’s vergessen hast.“
„Ich hab’s nicht vergessen. Ich wusste bloß nicht, worüber du redest.“
„Aua. Das ist noch schlimmer!“
„Warum?“
„Weil das so ist, als wüsstest du gar nichts mehr.“ Sie entzog ihm ihre Hände und blickte über die blau beleuchtete Stadt hinweg. „Wir haben uns eigentlich … In der letzten Woche haben wir uns kaum berührt.“
„Nein, scheint mir auch so.“ Er seufzte. „Anscheinend sind wir dauernd im Krisenmodus.“
„Wenn man bedenkt, dass die ganze Stadt in der Versenkung verschwinden könnte, ist das wohl keine große Sache.
Das sollte uns aber doch enger zueinanderbringen, findest du nicht?“ Sie sah ihn erwartungsvoll an, als ob sie ihm ein besonders kniffliges physikalisches Problem dargelegt hätte.
„Du musst das so sehen, Jessica“, sagte er und legte den Arm um sie. „Wenn Samhain kommt, können wir einen ganzen Tag zusammen fliegen.“
„Jonathan!“
„Was denn?“ Er hob beschwichtigend seine Hände. „Ich sag’s doch bloß.“
Sie wandte sich stöhnend ab. „Ich wusste , dass du so denken würdest.“
„Wie denke ich?“
„Du findest es aufregend , was passieren wird, hab ich recht?“, schluchzte sie. „Du würdest dich wahrscheinlich freuen, wenn es für immer so weitergehen würde: blaue Zeit, für immer und ewig. Nie wieder Flächenland. Was könnte besser sein?“
Er verdrehte die Augen, konnte es aber nicht über sich bringen, ihr laut zu widersprechen. Schließlich hatte er genau das gedacht, als Midnight gekommen war.
Aber deshalb war er doch noch kein schlechter Mensch, oder?
Jonathan holte tief Luft. Wenn man versuchte, Jessica etwas zu erklären, gab es meistens einfach nur Streit. Aus irgendeinem Grund versuchte er es aber trotzdem immer wieder. Man durfte nicht aufhören, miteinander zu reden, sonst würde nie etwas geklärt werden.
Nervös setzte er an. „ Jess, hör mir zu. Hast du dir nie vorgestellt, dass die Welt untergeht? Ich meine, phantasiert , dass ein Atomkrieg oder eine Seuche oder irgendwas alle auslöscht außer dir und ein paar Freunden? Und natürlich ist das total tragisch und alles, aber plötzlich gehört dir die ganze Welt?“
„Mmh … Nein, eigentlich nicht.“ Sie seufzte. „Ich phantasiere eher davon, ein Rocksternchen zu sein, das fliegen kann.
Und keine kleine Schwester hat.“
Er lächelte, nahm sie bei der Hand und stieß sie beide ein paar Zentimeter vom Boden ab. „Na ja, eins von dreien ist gar nicht so schlecht.“
„Willst du behaupten, ich wäre kein Rocksternchen?“
„Du singst doch gar nicht.“
„Unter der Dusche schon.“ Endlich huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, als sie auf das Dach zurücksanken. Aber dann entzog sie sich ihm wieder. „Jonathan, das Problem ist,
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